Ausgabe 21 - 1998berliner stadtzeitung
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Berlin 1898

Kabel aus Schöneweide (Teil 1)

Das das kommende "elektrische Jahrhundert" bringen wird, ist schwer auszudenken. Eine wichtige Rolle dabei werden jedenfalls die elektrischen Kabel spielen. Derzeit hat Deutschland die beste und bedeutendste Kabelfabrikation der Welt und damit vor England und London die Führung übernommen. Das Wort "Kabel" stammt aus der Sprache der Seeleute, die mit Kabel oder Trosse die dicksten Taue bezeichnen, die zum Festmachen der Schiffe oder zum Verholen schwerer Lasten verwendet werden. Elektrische Leitungen, die äußerlich dicken Tauen gleichen, werden neuerdings ebenfalls Kabel genannt. Die modernste und größte Kabelfabrik des Kontinents befindet sich näher, als man vermuten möchte.

Wir besteigen einen Berliner Vorortzugund fahren eine Stunde nach dem Südosten. Zum Leiten des elektrischen Stromes benötigt man Draht, und zwar solchen aus Kupfer, der, neben Silber, den elektrischen Strom am besten leitet. Die unterirdische Verlegung solcher Leitungen bietet viele Vorteile gegenüber der oberirdischen, besonders durch den Verzicht der Aufstellung der hohen Masten. Doch würde man diesen Draht einfach so unter die Erde legen, entwiche viel Elektrizität unterwegs. Besonders bei feuchtem Erdreich, weil Wasser ein sehr guter elektrischer Leiter ist.

Also muss man den Kupferdraht isolieren, das heißt mit einem Stoff umgeben, der die Abgabe von Elektrizität verhindert. Diesen Stoff fand man in Gummi und Kautschuk. Doch muss auch diese Schicht noch mit einem Schutz versehen werden. Noch Ende der 80er Jahre glaubte man, dass Kabel für eine höhere Spannung als 5000 Volt gar nicht herstellbar wären. Und doch werden heute in der Hauptsache Kabel für die Hochspannung von 10000 Volt fabriziert.

In Niederschöneweide angekommen durchschreiten wir den mächtigen Industrieort bis zur Spree. Hinüber gelangen wir auf einer eleganten, hochbogigen Fußgängerbrücke, von der man einen schönen Blick auf den schiffbelebten Fluss und die industriereiche Gegend hat. Am anderen Ufer nun liegt das Kabelwerk "Oberspree" der Allgemeinen Elektricitätsgesellschaft vor uns. Die Häuser am jenseitigen Ufer sehen aus wie frisch aus der Spielzeugfabrik. Und noch eine Menge Neubauten stehen kurz vor der Vollendung.
"Da drüben stand vor einem Jahr nichts als Gras", sagt uns ein Passant. Ungläubig fragen wir zurück:
"In so kurzer Zeit ist der Ort da entstanden?"
"Ja, durch das Kabelwerk. Es hat 1800 Arbeiter, männliche und weibliche, und eine Menge von Beamten, die wohnen alle in dem neuen Ort Oberschöneweide." Zum Verwaltungsgebäude müssen wir fast um das ganze Werk herum. Überall stehen hohe Masten, die streckenweise Kabel tragen und an deren Fuß die Warnung steht: "Vorsicht! Hochspannung!" Aus einem hohen, kirchenschiffähnlichen Gebäude ertönt Sausen und Surren von Dynamomaschinen: die elektrische Zentrale des Werkes.

Ausnahmsweise erhalten wir im Verwaltungsgebäude eine Besuchserlaubnis und einen sachkundigen Führer. Zu viele Geheimnisse in der Fabrikation sollen gehütet bleiben. Wir überschreiten im Hof einige Eisenbahngleise, als uns auf den Schienen ein Ungeheuer entgegengelaufen kommt. Es ist ein elektrischer Elefant, der in seinem hocherhobenen Rüssel eine Tonnen schwere Kabeltrommel trägt. Hinter sich zieht er zwei Eisenbahnwagen. Unser Führer erklärt uns:
"Das ist ein Laufkran, der mit oberirdischer Stromzuführung versehen ist und gleichzeitig als Lokomotive dient. Er schiebt die Eisenbahnwagen hin und her und entladet sie. Er zieht Wagen bis zum Wasser, wo die Schiffe liegen, entnimmt ihnen die Güter, ladet sie auf kleine Wagen, schleppt sie in die Fabrik und ladet die Güter wieder an den Stellen ab, wo sie gebraucht werden. Er ist hier das "Mädchen für alles". Unser technischer Leiter war nämlich zu Studienzwecken in Amerika und hat von dorther alle möglichen praktischen Neuheiten mitgebracht.

Sehen Sie da drüben das hohe Gerüst am Wasser? Es ist ein Elevator, der die Steinkohle direkt aus den Schiffen holt und in die Feuerung der Kessel hineinbringt, ohne dass Menschenhand die Kohle berührt. Das geht hier alles bei uns mechanisch-automatisch mit Hilfe der Elektrizität. Dampf haben wir nur zum Treiben der Dynamos, zum Heizen und zum Trocknen, sonst sind sämtliche Maschinen elektrische. Sie finden im ganzen Werk keinen Transmissionsriemen, keine Dampfleitung. Jede Maschine wird einfach durch Umdrehen eines Schalthebels in Tätigkeit gesetzt."

Falko Hennig

Fortsetzung im nächsten scheinschlag

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