Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die Melancholie hat ein Zuhause gefunden

Mitten im Wald hält Potsdams ehemaliger Hauptbahnhof Dornröschenschlaf

Wer würde auf die Idee kommen, dort einen Bahnhof zu bauen, wo ordentliche Verkehrsverbindungen fehlen, um einfach und schnell in die Stadt zu kommen, das Gebäude nicht nur mit Gleisen und Zuganzeiger, sondern auch mit einem Hotel und Einkaufsmöglichkeiten auszustatten, das gesamte Ensemble praktisch ins Niemandsland hinzuplazieren und dann ganz frech – und gleichzeitig provinziell – „Hauptbahnhof" zu taufen?

Ich schreibe aber nicht von Mehdorn ­ und auch nicht von Berlin. Am Stadtrand von Potsdam, von Wald umgeben, befindet sich noch Potsdams einstiger Hauptbahnhof. Seit „Potsdam Stadt" abgerissen wurde, um schon wieder einem halbleeren Einkaufszentrum samt IC-Anschluß zu weichen und aus dem „Bahnhof Wildpark" „Potsdam Park Sanssouci" mit Bahn-AG-Schulungszentrum im neu aufgebauten Kaiserbahnhof wurde, fristet der damalige Bezirkshauptbahnhof ­ heute „Potsdam-Pirschheide" ­ ein eher kümmerliches, aber trotzdem hübsches Dasein.

Während praktisch jeder Haupt- und Dorfbahnhof im Osten, der die Verschmelzung von Reichs- und Bundes- zur Börsenbahn überlebt hat, immer noch halbfrischsaniert, genormt und sowas von persönlichkeitslos ­ mit oder ohne Großkonsummöglichkeiten außerhalb des Ladenschlußgesetzes ­ wirkt, hat man hier, was man will: einen Bahnhof, wie Bahnhöfe früher waren und sein sollten ­ auf das Wesentliche konzentriert, nämlich aufs Bahnwarten und Bahnfahren. Oder aufs Wegfahren, denn die Menschen, etwa zur Hälfte Italiener, die aus Gründen, die mir nicht ganz einsichtig waren, am Karfreitagmittag dort herumhingen, schienen wissen zu wollen, wo eigentlich Potsdam sei und wie sie dort hinkämen.

Die DDR-Führung wußte dagegen ganz genau, wo Potsdam ist ­ nämlich verdammt nah an West-Berlin. Deshalb lautet eine Erklärung für diesen „Hauptbahnhof" so: Schon als man offiziell noch keine Absicht hatte, eine Mauer zu bauen, hat man gerätselt: Wie bringt man die Werktätigen aus dem sogenannten demokratischen Sektor nach Potsdam, ohne sie durch den Westen transportieren zu müssen? Die andere so: Wegen des Vier-Mächte-Status' Berlins war es für Züge aus der DDR schwierig, durch West-Berlin zu fahren ­ was allerdings etwas unwahrscheinlich ist, denn die Reichsbahn betrieb die Bahn in der ganzen Stadt. Sowieso: Als der Schutzwall kam, wurde aus dem erst 1958 eröffneten „Haltepunkt Potsdam-Süd" auf dem neugebauten Berliner Außenring einfach ­ bis 1993 ­ ein Hauptbahnhof.

Außer der Anzahl der Gleise (acht, sieben davon stillgelegt) und der Größe der Eingangshalle (und mehrerer rostender Kronleuchter) ist nicht mehr viel übrig von dem „Haupt" im Hauptbahnhof. Die Fahrkartenschalter sind zugemauert, die Uhren sind kaputt, die Anzeiger sind weg, alle Fenster im Stellwerk sind verbarrikadiert oder zerbrochen. Und Werbung? Nichts davon. Sogar die Graffiti sind außergewöhnlich. Hauptsächlich liest man, daß „die Multikultigesellschaft gescheitert" und der „öffentliche Dienst-Ost ein Sammelbecken für faule DDR-Schmarotzer" sei. Tags findet man zwar, aber Sprühereien en gros, wie man auf so einer Fläche erwarten würde ­ Fehlanzeige. Hier verkehrt Brandenburgs künstlerische Jugend kaum. Die Zeit ist stehengeblieben, die Wandfarbe blättert ab. Einen Fahrkartenautomaten findet man auch nicht. Dafür aber, wenn man hinausgeht, noch einiges.

Ein Busbahnhof, der eine ganze Linie betreut. Taxistand, gelbe Telefonzelle ­ „Hier können Sie langfristig werben: Vermietung durch die Deutsche Postreklame, Berlin, Wilhelm-Pieck-Str." ­ , Briefkästen. In dem ehemaligen Mitropa-Restaurant eine Bowlingbahn, wo eine große Tafel das Stadtmuseum empfiehlt: „Geschichte der Stadt Potsdam von 993 bis 1945 ­ Galerie sozialistische Kunst". Im Verwaltungsgebäudeteil hat vor kurzem eine Tischlerei Platz gefunden, nebenan betreibt die Verkehrswacht einen sehr einfachen Fahrübungsplatz. Im Bahnhofshotel gab es nach der Wende, so liest man, einen Puff. Heutzutage wird aber Sexualität hier vermutlich nur in einem Container Namens „Eroticats" ausgelebt ­ mit Hilfe von „Magazinen und Präparaten". Stolz wird man im ansonsten dunkel zugeklebten Fenster informiert, daß der Laden „Mitglied im Bundesverband Erotik-Handel e.V." ist. Am Imbißhäuschen gibt es dazu einen gut gepflegten und gefüllten Condomat mit Produkten sowohl für den Vaginal- als auch den Analverkehr ­ vielleicht ist hier doch einiges nach dem Bowlingabend los.

Der Hauptzweck des Geländes scheint heute aus seiner Eigenschaft als Straßenbahnwendepunkt und Ausstieg für Bankangestellte, die in der neugebauten Sparkassenakademie einen Steinwurf entfernt ihren Umgang mit Geld erlernen, zu bestehen. Es ist schön hier. Wenn man von etwas weiter entfernt herüberschaut, sieht man einen Musterbahnhof, ein bißchen wie ein Playmobil- oder Lego-Set. Vorbei fahren die Radwanderer und Wohnwagenbesitzerfamilien auf dem Weg zum Zeltplatz. Die Vögel pfeifen. Müll gibt es nicht. Erst wenn man näher herankommt, merkt man, daß irgendwas nicht stimmt.

Am oberen Bahnhsteig, wo Moos und Gras überall wuchert, klebt noch Propaganda aus der Aufbruchszeit, wie man sie nur noch selten findet. Ein schlecht gedrucktes A4-Blatt der „Unabhängigen Wählervereinigung" verkündet folgendes: „Die soziale Marktwirtschaft ist die Zukunft unseres Vaterlands". Ob das auch galt und gilt für Potsdam-Pirschheide? Die Bahn AG will den Bahnhof verkaufen. Unter Denkmalschutz steht er nicht.

Ich fahre weg, nehme den Bus 695 zum ­ wohin denn sonst ­ Hauptbahnhof. Ich muß noch einkaufen.

Matthew Heaney

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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