Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die postfreudianischen Reiter der Apokalypse
zu Besuch in der Auguststraße

Auf der 4. berlin-biennale wird Kunst zur hyperindividualisierten Zustandsbeschreibung

1. Neulich fand sich ein Artikel im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Es ging um Jutta Weitz und ihre Rolle bei der Vergabe von leeren Ladenflächen in der Auguststraße. Das war Anfang der Neunziger, als Mitte noch Spandauer Vorstadt hieß und sich Berlins Galerieszene ausschließlich im Westen tummelte. Jutta Weitz arbeitete bei der Wohnungsbaugesellschaft Mitte und sorgte mit günstigen Verträgen dafür, daß sich dies nachhaltig änderte. Alle, die ich kenne und die diesen Artikel gelesen haben, waren vor allem von dem abgedruckten Foto bewegt. Es zeigt die Ecke Tucholsky-/Auguststraße vor dem großen Mitte-Boom: graue Wände und abblätternder Putz. Cafés und Kneipen – Fehlanzeige. Wir sprachen dann darüber, wie wenig wir selbst auf Fotos von dieser Umbruchsituation festgehalten haben und warum es uns damals auch kein Bedürfnis war – waren wir doch viel zu sehr damit beschäftigt, selbst diese Freiräume zu nutzen oder uns einfach durch diese Alles-ist-möglich-Atmosphäre treiben zu lassen.

2. Alle paar Wochen treffe ich mich mit einem Freund am Samstagnachmittag und schlendere mit ihm durch die Galerien in der Auguststraße. Das ist sehr unterhaltsam. Ein wenig wie interaktives Zappen im Fernsehen am Vorabend zwischen Simpsons, Kulturzeit und Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Man kann schmunzeln, sieht spannendes Zeug, und chillen läßt es sich gleichzeitig auch noch ganz gut. Hinterher gehen wir immer in die Konditorei auf der Ecke Hamburger Straße, trinken Kaffee, essen Kuchen und reden über das, was in den letzten Wochen so passiert ist. Dann fahre ich nach Hause und gucke Sportschau. Tut alles nicht weh.

3. John Steinbecks Roman Von Mäusen und Menschen erzählt die Geschichte von den Wanderarbeitern Lennie und George. Sie tippeln während der großen Depression in den dreißiger Jahren durch die USA. Geld haben beide keins und Jobs finden sich auch eher sporadisch, dafür haben sie aber einen Traum ­ den Traum von einer eigenen kleinen Farm. Lennie ist stark und arbeitet wie ein Tier. Seine unkontrollierte Kraft ist es, die den Traum von der Farm schließlich in einem Drama enden läßt. Das Buch ist eine Parabel auf menschliche Solidarität, aber auch dafür, wie schnell sich Menschlichkeit in Gewalt kehren kann.

4. Das Motto der diesjährigen Biennale lautet: Von Mäusen und Menschen.

5. Als Besucher der Biennale hat man Gelegenheit, auch ohne Eintritt zu bezahlen, an der Kunstshow teilzunehmen. Die 4. berlin-biennale findet über die gesamte Länge der Auguststraße statt. In Privatwohnungen, Containern, leerstehenden Gebäuden, Galerien und auf dem jüdischen Friedhof werden Kunstwerke präsentiert oder haben Künstler die Orte für Installationen genutzt.

6. Der Kurzführer der Biennale beschreibt nicht nur Künstler und Kunst, sondern auch die Geschichte der Ausstellungsorte. Hintergrundbeleuchtung und konkrete Beschreibung sind weder grell noch beliebig ­ eine Balance, die nicht immer einfach ist. Hier zeigt sich eine angenehme Sorgfalt.

7. Inmitten des perfektionierten Marken- und Galeriesystems Auguststraße erwacht für ein paar Wochen noch einmal die längst untergegangene Spandauer Vorstadt: Die seit zehn Jahren ungenutzte jüdische Mädchenschule mit den vergilbten Tapeten und abblätterndem Putz wird so zu einem somnambulen Halbtraum zwischen Kunst und Zeitgeschichte. Am anderen Ende Straße mutiert eine Wohnung im Erdgeschoß des Plattenbaus zu einer Wohnhöhle und Rauminstallation. In einem mehrwöchigen Prozeß künstlerischen Arbeitens haben die beiden Künstler Lutz Braun und Kai Althoff in dieser Wohnung einen aufgeladenen Schutzraum des Privaten geschaffen. Wie einen Gegenpol zu dem-da-draußen spiegeln die bearbeiteten Räume drinnen eine dysfunktionale Lust an der Verweigerung wider. Die Hinterlassenschaft in der Wohnung liegt zwischen künstlerischem Exzeß und autistischem Ruckzug.

8. Im Gegensatz zum teilweise krassen Hype der benachbarten Galerien herrscht in diesen Außenbereichen der Biennale eine seltsam intensive Stimmung. Das liegt natürlich an den übergeordneten Themen Melancholie und Depression, die sich die Kuratoren offensichtlich aus Steinbecks Roman hergeleitet haben. Vor diesem Hintergrund wirkt die Biennale wie die jüngere Schwester der Melancholie-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Enden dort die Fäden zumeist an den sicheren Bezugspunkten der klassischen Moderne, so wird die Auguststraße zum wesentlich spannenderen Experimentierfeld für die Frage, was dieses Gefühl der Introvertiertheit und der Lähmung heute bedeutet und welche Mittel und Methoden zur Verfügung stehen, um mit den gesamtgesellschaftlichen „Momenten der Desorientiertheit und Zuständen der Unsicherheit" (Pressemitteilung bb4) umzugehen. Der Rückzug der Kunst auf das Eigentliche soll die Klammer sein, die all das zusammenhält. In dieser Beschränkung auf das individualisierte Subjekt ­ abgekoppelt von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ­ liegt aber auch das Manko dieser Veranstaltung: Das Individuelle wird mystifiziert und mythologisiert. Die postfreudianischen Reiter der Apokalypse des Seelenlebens rocken die Schwermut bis zur affirmativen Gleichgültigkeit.

9. Die neue CD der Sterne heißt Räuber und Gedärm. In ihren Texten untersuchen die Musiker ähnliche Seelenzustände, aber ihre Schlußfolgerungen sind andere: Sie beschreiben Politik als Handlung in der ersten Person und wenden sich gegen Ästhetisierung und spirituelle Überhöhung. Das schöne Leben lautet der ironisch gebrochene Titel des neuen Albums der Berliner Band Britta. Prekäre Arbeitsverhältnisse und Lebensbejahung trotz depressiver Dauerstörung sind hier die Themen. Wenn man Kunst auch als Pop und Pop auch als Kunst versteht, läßt sich mit dem zeitgleichen Erscheinen dieser beiden Musik-CDs und deren Inhalten durchaus Kritik an der Biennale-Philosophie formulieren. Bei der Suche nach dem, was unser Leben momentan zusammenhält und auseinandertreibt, muß es zwangsläufig um Befindlichkeiten, Authentizität und Innenansichten gehen. Das gelingt den Kuratoren auch ausgesprochen gut. Ohne Aufgeregtheit pendeln sie mit der Ansammlung der ausgestellten Kunstwerke zwischen Poesie und rauher Alltagsmonotonie. Aber das ist eben nur ein Teil der Subjektkonstitution im Hier und Jetzt. Die anderen (Erfahrungs-)Wirklichkeiten sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Diskurse, die man auch „das Politische" nennt. Das Kuratorenteam der Biennale hat diesen Aspekt nicht oder nur am Rande aufgenommen. Aber, wie die aktuelle Popkultur zeigt, lassen sich beide ­ politische Realität und künstlerische Interpretation ­ verbinden, ohne daß „das Werk" an künstlerischer Intensität verliert ­ im Gegenteil.

Marcus Peter

>> Die 4. berlin-biennale „Von Mäusen und Menschen" ist noch bis zum 28. Mai in den KunstWerken und an diversen Orten in der Auguststraße zu sehen, Eintritt 12 Euro, ermäßigt 7 Euro

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