Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Tele-Intimität

Fotografien von Passanten in Großstädten; die Entdeckung von Serie und Sequenz als ausdruckssteigernde Mittel – das alles wurde einst schon von Walker Evans vorgemacht, dessen Bilder von Menschen in der New Yorker U-Bahn ab Ende der dreißiger Jahre eine ganz ungewohnte, völlig unverstellte Seite des menschlichen Antlitzes zeigten. Unverstellt heißt in diesem Falle auch: Der Fotograf blieb dabei unbeobachtet. Schon damals setzte Walker Evans den Voyeurismus bewußt und reflektiert ein. Obwohl er die Kamera im Mantel versteckt hielt, zielte er nicht auf denunziatorisches Abbilden seiner Gegenüber.

Beat Streulis Aufnahmen von Passanten in verschiedenen Metropolen ­ z.B. New York oder zuletzt Krakau ­ knüpfen in diesem Sinne an Walkers Konzeptionen an, wirken im Vergleich aber etwas liebevoller und persönlicher. Die Menschen wurden wahrscheinlich nicht heimlich, sondern aus größerer Entfernung aufgenommen. Dadurch wird im Bild Distanz nicht gewahrt, aber gezeigt ­ nicht unähnlich einem gelungenen, d.h. respektvoll gemachten Wildtierporträt. Im direkten Vergleich mit Helmut und Gabriele Nothhelfers Arbeiten ­ sie erstellen sehr respektvolle Nah-Porträts hauptsächlich von Besuchern von Massenveranstaltungen ­ wird diese Herangehensweise als Beobachter, nicht als Spion, noch deutlicher.

Streuli breitet sein Konzept, die „massenweise" Erstellung von Personen-Portraits innerhalb von Menschen-Massen-Räumen , offen aus. Er thematisiert die schnelle, universelle Distanz-Überbrückung via Bild-Aufzeichnung, die Menschen heute nutzen, um andere jederzeit nah heranzuholen. Die Wirkung von großflächigen Foto-Tableaus und projizierten schnellen Bildfolgen soll Streulis „gute" Absichten unterstreichen, den Fokus auf „die Person" nicht zu verlieren, egal wievielen man gegenübersteht.

jg

>> „Beat Streuli: Krakow October 05", in der Galerie Wilma Tolksdorf, Zimmerstraße 88-89, Mitte, vom 29. April bis 14. Juni, Di-Fr 11-18 Uhr, Sa 11-16 Uhr

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