Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
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Mit der Notrufnummer gegen Wohnungskummer

Die „Kampagne gegen Zwangsumzüge" sitzt in den Startlöchern

Meldungen über bevorstehende Zwangsumzüge wegen Hartz IV sorgten in den letzten Wochen für Verwirrung und riefen eine bundesweite „Kampagne gegen Zwangsumzüge" auf den Plan. Etwa 4000 Haushalte seien in Berlin bereits wegen „überhöhter Mietkosten" angeschrieben worden, meinen Hartz-Gegner.

Wird in einem ersten Überprüfungsverfahren festgestellt, daß die Wohnung der Alg II-Empfänger für den ab 1. Juli geltenden Regelsatz zu teuer ist, sollen sie durch Untervermietung oder Verhandlungen mit dem Vermieter dafür sorgen, daß ihre Bleibe billiger wird. Andernfalls müssen sie den überschüssigen Betrag aus ihrem Alg II selbst bezahlen oder im schlimmsten Fall die Wohnung wechseln. Mietervereine und Hartz-Gegner reden von bundesweit bis zu über einer halben Million betroffenen Haushalten.

Zur Vorsicht bei solchen Spekulationen mahnt jedoch Sigmar Gude vom Stadtforschungsinstitut Topos. Ihm zufolge herrscht bei der Umsetzung der neuen Gesetze „Durcheinander und Konfusion". Seriöse Daten über Betroffenenzahlen hätten allein die Arbeitsagenturen, diese gäben sie aber nicht heraus. „Auch die Senatsverwaltung mauert, sie gibt nur einzelne, unzusammenhängende Zahlen heraus, sagt aber nicht, wo diese herkommen", so Gude. Eine Schätzung sei auf dieser Grundlage nicht möglich.

Als Gründe für die horrenden Zahlen vorheriger Schätzungen nennt er Ausnahmeregelungen, die nicht beachtet wurden. Genau auf die Handhabe von solchen Härtefallregelungen zielt aber die Kritik der Anti-Hartz-Initiativen. Ihnen zufolge werden diese in vielen Fällen von den Arbeitsagenturen schlichtweg ignoriert und Arbeitslose falsch informiert. So seien mehrere Aufforderungen zur Mietkostensenkung an alleinerziehende oder behinderte Menschen verschickt worden. Dies sei jedoch nicht zulässig. Ein weiterer Grund für die ungenauen Angaben ist, daß Mietprüfungen noch nicht bei allen Alg II-Empfängern durchgeführt wurden. Diese können sich noch über das ganze Jahr hinziehen.

Darauf wollen die Hartz-Gegner aber nicht warten. Sie fürchten eine Verschleppung des Problems. Zwangsumzüge würden unspektakulär und über einen langen Zeitraum verteilt ablaufen, viele Betroffene auch bei fehlerhaften Bescheiden aus Angst und Unsicherheit freiwillig die Wohnung aufgeben. Andere müßten sich verschulden, um die über dem Regelsatz liegende Wohnung zu halten.

Deshalb hat die „Kampagne gegen Zwangsumzüge" in zahlreichen Städten Notrufnummern eingerichtet, die in den ersten Wochen schon mehrere hundert Anrufe verzeichneten. Hier bekommen Betroffene Rat und im Falle eines Rausschmisses wegen Mietschulden auch tatkräftige Unterstützung. „Wir werden uns einfach mit mehreren Hundert Leuten vor die Haustür stellen und den Umzugsunternehmer nicht hereinlassen", hieß es auf einer Pressekonferenz. Auf einer Homepage sollen Termine und Orte von bekannten Zwangsräumungen veröffentlicht werden, um möglichst viele Unterstützer zu mobilisieren.

Erste Erfolge können schon verzeichnet werden. So haben öffentliche Wohnungsbaugesellschaften zugesichert, die Unterkunftskosten für betroffene Mieter zu mindern. Wie andere Vermieter damit umgehen werden, ist jedoch ebenso unklar wie die Handhabe anstehender Miet- und Nebenkostenerhöhungen.

Philipp Mattern

>> www.zwangsumzuege.de

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