Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
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Die Architektur des „neuen Berlin" oder: Wie es wurde, was es ist

Der Erfinder der „Kritischen Rekonstruktion" verabschiedet sich in den Ruhestand

Hans Stimmann, Berlins Senatsbaudirektor seit 1991, erreicht in diesem Jahr das Pensionsalter von 65 Jahren, und er wird wohl auch tatsächlich seinen Dienst in Berlin beenden.

Das Buch, das Hans Stimmann uns und vor allem sich selbst hinterläßt, ist nun im Nicolai Verlag erschienen. Es heißt Die Architektur des neuen Berlin. Berlin ist auf der Titelseite rot hervorgehoben, und das bleibt auf den folgenden 500 Seiten der einzige Farbtupfer. Ansonsten ist den Buchautoren und den Gestaltern eine bemerkenswerte Homogenität gelungen: Das Buch ist groß, dick, grau, schwer ­ wie eine Lochfassade aus Sandstein. Die perfekt in ein Buchformat übertragenen Leitlinien des von Stimmann initiierten und durchgesetzten „Planwerk Innenstadt". Ein Buch wie die Städtebaupolitik in Berlin.

Die stimmungsvollen Bilder von Erik-Jan Ouwerkerk sind durchgehend schwarz-weiß. Selten huscht ein Mensch durch das Bild. Die Zeichnungen der Architekten, die in den letzten 15 Jahren in Berlin die entscheidenden Wettbewerbe gewonnen haben, waren wie diese Fotografien: grau und groß. Und sie ziehen hier alle noch einmal an uns vorbei: das Auswärtige Amt (Müller und Reimann), die Leibnizkolonnaden (Kollhoff und Timmermann), und wenn man denkt, schlechter geht es nicht mehr, dann kommen die „Bürohäuser am Spreeufer" (Sawade), deren Projekttitel die gesamte Mittelmäßigkeit und Bedeutungslosigkeit Berliner Nachwendearchitektur in beeindruckender Vollständigkeit auszudrücken vermag.

Stimmann schreibt, das Buch sei kein „Rechenschaftsbericht" seines Schaffens in Berlin, und doch ist es genau das. Er erläutert seine Auffassung von Architektur und Stadt (die einzelne Architektur soll im Dienst der Stadt stehen), zur Gestalt der europäischen Stadt (einheitlich, dicht, harmonisch) und zum Verhältnis von Tradition und Moderne („Kritische Rekonstruktion"). Während Stimmanns Aufsätze vom versöhnlichen Tonfall des scheidenden Alterspräsidenten geprägt sind, läßt er seinen persönlichen Kampfhund Martin Kieren noch einmal nachträglich auf alles eindreschen, was in den letzten 15 Jahren wagte zu widersprechen. Beide jammern über den oft respektlosen Umgangston in den Berliner Debatten, um den Theoretikern des gegnerischen Lagers dann kurz „geistige Not" zu unterstellen, die sie zu Anhängern einer physiognomielosen zeitgenössischen Architektur macht, „die sich aus der gesellschaftlichen Verantwortung in einen isolierten Individualismus im Auftrag der Kulturindustrie flüchtet." Die alten Männer glauben an die vollständige Alternativlosigkeit ihres Handelns: so und nicht anders. Die präsentierten Gebäude haben sich für das Buch durch ihre „gebotene Knappheit des Ausdrucks" qualifiziert.

Nicht einmal der Begriff der „Kritischen Rekonstruktion" stammt ja von Stimmann, sondern von Josef Kleihues aus den achtziger Jahren, als man gegen die Kahlschlagsanierung und die alle gewachsenen Strukturen überdeckende Moderne kämpfte. Stimmann prägte den Begriff neu als eine Form von Städtebaupolitik, die sich der Gegenwart zunehmend verschloß und schlicht ignorierte, daß eben genau diese Moderne der Stadt in Ost und West inzwischen Geschichtssedimente hinzugefügt hatte, die durch eine Rückkehr zum historischen Grundriß nicht mehr zu bewältigen waren.

Hilflos operiert Stimmann auf dem Kulturforum, weil er in Scharouns Planungen eine Vernichtung der gewachsenen Stadt sieht. Hilflos sind die Entwürfe des Planwerks Innenstadt für den „Bereich Molkenmarkt", wo die Rekonstruktion der mittelalterlichen (!) Strukturen die Verkehrsschneisen der Hauptstadt der DDR vernichten soll. Das Buch zeichnet in Bild und Text das faszinierende Psychogramm einer gerade aussterbenden Planergeneration, die glaubte, von den starren Entwürfen der Moderne frei zu sein und doch nur in starren Regularien operieren konnte. 15 Jahre lang konnte diese Architektur der Sachstandsbearbeiter alles wegbeißen, was jung, innovativ und riskant gewesen wäre, und hinterläßt ein Schreckenskabinett der Investorenarchitektur und des kritiklosen, sogar handwerklich schlechten Historismus.

Was dieses Buch unterschlägt, weil es unterschlagen werden muß, ist das Berlin, das in diesen letzten 15 Jahren unter Stimmann nicht realisiert werden konnte und durfte. Nichts weiter als ein Feigenblatt ist der Verweis auf Rem Koolhaas' Neubau der niederländischen Botschaft, auf das „SlenderBender"-Wohnhaus von deadline in der Hessischen Straße, Daniel Libeskinds Jüdisches Museum oder Frank O. Gehrys DG-Bank am Pariser Platz, deren Dekonstruktivismus sich damals unter großem Protest ins Innere des Gebäudes verzog – Architektur, die nicht wegen, sondern trotz Stimmanns Regularien entstehen konnte. Sich nachträglich ihrer zu rühmen und als Beweis zu benutzen, die Regularien hätten auch solche Ergebnisse geduldet, ist schlicht falsch. Diese Gebäude sind entweder unter großmütig erscheinenden Ausnahmegenehmigungen oder durch maximales, fast illegales Ausreizen der Bauvorschriften realisiert worden.

Es gibt im ganzen Buch keinen Anflug von kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen; auch das ist ein Zeichen von Altersstarrsinn. Die Nachwendegeschichte in Berlin ist zweifelsfrei durch Stimmann entscheidend geprägt worden. Es bleibt das Gefühl, es wäre architektonisch mehr drin gewesen. Gehrys Entwurf für die Museumsinsel, Libeskinds Entwurf für den Alexanderplatz und Koolhaas' Leitlinien für den Potsdamer Platz sind gewiß nur die Spitzen eines anspruchsvollen architektonischen Eisbergs, der für immer unter der Wasseroberfläche der Möglichkeiten bleiben wird. Wenn Stimmann in Pension geht und der Posten eines Senatsbaudirektors voraussichtlich vollständig aufgehoben wird, dann werden wir sehen.

Florian Heilmeyer

>> Hans Stimmann/Martin Kieren:
Die Architektur des neuen Berlin.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2005. 69,90 Euro

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