Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Applaus von beiden Seiten

Der „Brandbrief" der Lehrer der Rütli-Schule enthält problematische Annahmen

Den ganzen Wirbel um die Rütli-Schule hat ein Brief ausgelöst, den die Lehrer an eine Adressatin in der Schulverwaltung „mit der Bitte um Weiterleitung" an zwölf weitere Stellen geschrieben hatten. Es kam, wie es kommen mußte und wie es offensichtlich gewünscht war: Der Brief fand seinen Weg in die Öffentlichkeit und löste einen Riesenwirbel aus.

Was die Lehrer schreiben, klingt alarmierend. Wenn man ihren Schilderungen trauen darf, ist an der Rütli-Schule ein Krieg ausgebrochen, bei dem jede einzelne Unterrichtsstunde einer Schlacht gleichkommt. Die Schüler seien aggressiv, respektlos und desinteressiert, Vandalismus weit verbreitet und das Unterrichtsverhalten durch „menschenverachtendes Auftreten" geprägt. Die Erziehungsbemühungen des Lehrkörpers werde durch die Eltern konterkariert, die sich aus der Erziehung ihrer Kinder ausgeklinkt hätten.

Wenn die Lehrerschaft durch den Brief eine Debatte anstoßen wollte, ist ihr das gelungen. Die Republik hat die Vorlage dankbar aufgenommen und diskutiert nun über die „Integration" von „Ausländern". Daß der Brief zwei höchst problematische Aussagen enthält, ist allerdings übersehen worden.

Zunächst hatte es geheißen, die Lehrer forderten die Auflösung ihrer eigenen Schule ­ ein Mißverständnis, das in den Ausführungen des Briefs angelegt ist, denn die Beschreibung der konkreten Probleme der Rütli-Schule wird unmittelbar mit einer schulpolitischen Forderung verknüpft: „Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, daß die Hauptschule am Ende der Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit mehr gibt. Perspektivisch muß die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden."

So zu verfahren, ist unzulässig. Rütli-Schule und „die Hauptschule" ­ das sind zwei grundsätzlich verschiedene Dinge, die getrennt behandelt werden sollten. Oder aber es müßte detailliert aufgezeigt werden, in welcher Weise „die Hauptschule" für die eigenen Schwierigkeiten verantwortlich gemacht werden kann. Die Lehrer müßten dann beispielsweise erklären, warum es Hauptschulen gibt, die recht erfolgreich sind ­ nicht nur in Bayern, sondern auch in Berlin. Da der Brief diesen Nachweis nicht führt, ist die Forderung nach Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems recht weit hergeholt. Man erhält den Eindruck, als wollten die Verfasser unredlicherweise ein eigenes schulpolitisches Süppchen kochen.

Während die GEW über die Schützenhilfe in ihrem Kampf für die Gesamtschule jubelt, haben Stoiber & Co. begierig die zweite Botschaft aufgenommen: Gleich am Anfang wird ausführlich dargelegt, wie es um die ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft bestellt ist. Es wird suggeriert, der Umstand, daß 83 Prozent der Schüler nichtdeutscher Herkunft sind, habe maßgeblich zu den Problemen beigetragen. Doch auch diese Botschaft ist ebenso eindeutig wie kurzschlüssig: Wer den Ballast eines bildungsfernen Elternhauses lediglich en passant erwähnt, kann zu keiner adäquaten Problembeschreibung kommen.

Was die Lehrer hier betreiben, ist die Ethnisierung eines sozialen Gefälles. Wo ist der Unterschied zwischen einem deutschen Haushalt, in dem Bildung geringgeschätzt wird, und einem marokkanischen, der ebenfalls ganz ohne Bücher auskommt? Für die Behauptung, daß die ethnische Herkunft der Schüler etwas mit den Problemen zu tun habe, bleiben die Lehrer ebenfalls Belege schuldig. Ein Blick auf die „Integrationsprobleme" junger Franzosen mit Migrationshintergrund oder die Probleme einer Schule in Gardelegen mit einer ethnisch homogenen Schülerschaft zeigt doch, daß Sprache und Paß Indizien für „Integration" und Bildungserfolg sein können, aber nicht müssen.

Zur Verbesserung ihrer Situation fordern die Lehrer mehr Personal und eine bessere materielle Ausstattung, zum Beispiel eine Cafeteria ­ ein wenig originelles Anliegen. Hier offenbart sich jener Wunderglaube, man könne, wenn man nur wolle und genügend Mittel einsetze, alle sozialen Verwerfungen geradebiegen. Eine bessere Ausstattung mag man der Rütli-Schule wünschen, aber Verwahrlosung, Kriminalität und dergleichen haben komplexere Ursachen als einen zu geringen Mitteleinsatz.

Die Autoren des Briefs suchen Schuldige für ihre Misere und werden fündig: Die Schulverwaltung ist ignorant, die Schüler sind aggressiv, die Eltern desinteressiert, die Wirtschaft stellt keine Ausbildungsplätze zur Verfügung, die Hauptschule als solche ist zur Verwahranstalt verkommen. Alles nicht ganz falsch. Aber einen entscheidenden Faktor erwähnen sie nicht: sich selbst, die Lehrerschaft. Wenn etwa die Hälfte von ihnen aus dem Ostteil Berlins zwangsversetzt worden und deshalb frustriert, unmotiviert und überfordert ist, braucht man sich nicht wundern, wenn den Schülern das Lernen keinen Spaß macht.

Statt immer nur mit dem Finger auf andere zu zeigen, könnten die Lehrer von anderen lernen, wie man Probleme löst, etwa von der Heinrich-von-Stephan-Oberschule in Moabit. Vor ca. 20 Jahren herrschten dort Zustände wie heute an der Rütli-Schule. Die Kollegen begannen zunächst, die eigene Verwahrlosung zu bekämpfen: Der Unterricht begann pünktlich, am Ende wurde der Klassenraum aufgeräumt. Man wählte ein Schulleitungsteam, das den seit Jahren abwesenden Direktor ersetzte, und experimentierte mit neuen Unterrichtsformen. So verbesserte sich die Situation in vielen kleinen Schritten. Heute bleibt die Schulklingel immer noch stumm, bei PISA hat man gut abgeschnitten und erfreut sich ansonsten eines normalen Schulbetriebs.

Warum sollte das an der Rütli-Schule nicht möglich sein? Die Lehrer müßten allerdings bei sich selbst anfangen, um das „Wunder von Moabit" (SZ) zu wiederholen.

Benno Kirsch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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