Ausgabe 04 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Auch im Untergrund kann man Stadt erleben

Berliner U-Bahnlinien (I): die U8

„Und hör mir uff mit ,meine Liebe', du Spinner", faucht die ältere Frau resolut in ihr Handy und entschwindet am Rosenthaler Platz in die U8. Es ist Freitagabend, die Bahn Richtung Hermannstraße ist voll. Drei langhaarige junge Frauen diskutieren bis Heinestraße diverse Beziehungsprobleme („Ich red auch nicht schlecht über Anna, weißte ..."). Ab dem Kotti fühlt sich ein junger, schon etwas osterbewässerter Mann mit Wollmützchen an Mitte-Etikette nicht länger gebunden und packt die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz. Das kann auch in Kreuzberg ein Fehler sein: Prompt klagt eine Britin den Platz mit einem pikierten „Excuse me!" ein und verläßt ihn an der Schönleinstraße (wo gerade vier Frauen mit knallbunten Kopftüchern einsteigen) mit einem nachtragend-vorwurfsvollen „Please!" „Is mir auch wurscht", murmelt der Mützenmann und schließt die Augen. Zwei Kinder drücken sich die Nasen an der Scheibe platt und starren in den schwarzen Tunnel. Warum, bleibt ihr Geheimnis.

Die U8 verläuft ausschließlich unterirdisch und kreuzt mindestens fünf berlinische Dorfwelten: Sie führt von Neukölln über Kreuzberg, Mitte, Wedding bis nach Reinickendorf. Mit zunehmender Industrialisierung im expandierenden Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts waren auch zusätzliche Verkehrsmittel notwendig geworden, um die Heerscharen von Arbeitern in die Fabriken zu bringen. 1914 begann der Bau, doch erst 1930 fuhr die erste U-Bahn der Linie D durchgehend von Neukölln nach Gesundbrunnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrte die U-Bahn plötzlich unter der Grenze zweier politischer Blöcke. Nach dem Mauerbau verband die Linie nach wie vor Neukölln und Wedding, passierte dazwischen aber ohne Halt sechs Ostberliner Geisterbahnhöfe. Die wurden erst ab 1990 wieder geöffnet.

Die Rumpfstrecke und die Erweiterungsphasen kann man noch am Aussehen der Bahnhöfe erkennen. Die Boddinstraße ist grau mit mittelblauen Streifen, der Kotti zahnbelagfarben, die Jannowitzbrücke currygelb, der Rosenthaler Platz leuchtet orange. Die Osloer Straße, bis zu der die Strecke in den Siebzigern ausgebaut wurde, präsentiert sich als riesige norwegische Flagge, und im West-Berlin der Achtziger gab es offenbar richtig Geld: Ab Paracelsusbad protzen die Bahnhöfe mit bunten Mosaiken und aufwendiger technischer Ausstattung. Dafür hat das Geld dann nicht ganz, wie ursprünglich geplant, bis zum Märkischen Viertel gereicht: Ab Wittenau müssen die Märker in den Bus steigen.

Der Imbiß im U-Bahnhof Wittenau heißt wenig tröstlich, aber völlig logisch „Backshop Endstation". Vier Jungs mit Basecaps und Schlabberjeans entern den Waggon und tröten in ihre Kindl-Bierflaschen: „Zurückbleiben bitteee!" Sie sind auf dem Weg zum Bruder des einen, der derzeit in „Bonnies Ranch" weilt. „Wann isn dit mit deim Bruder ausjebrochen?" erkundigt sich der Kahlrasierte mitfühlend. Ansonsten geht es um Lesben und Schlampen, womit offenbar alle weiblichen Wesen gemeint sind, die sich gerade nicht für pubertierende Kindltrinker interessieren. Die gepflegte Frau daneben ­ Brille, Metallictasche, Strümpfe Marke Seidenglanz und sagenhaft vernünftige schwarze Schuhe ­ guckt stur geradeaus, zwei ältere, tütenbeladene Paare erregen sich über die klebrige Pfütze auf dem Boden und wechseln den Platz: „Da is allet naß, Schweine das."

Wer öfter U8 fährt, braucht den Blick aus dem Fenster nicht mehr, um zu wissen, wo er sich gerade befindet. Zwischen Hermannstraße und Kotti, zwischen Voltastraße und Paracelsusbad hört man nicht mehr nur Türkisch, Polnisch oder Arabisch, sondern es nimmt auch die Zahl traurig aussehender Männer mit Bierflaschen in der Hand zu, steigt die Dichte der Basecaps und Militaryklamotten, der Lidl- und Plus-Beutel: Das Ende der Berliner Industriegesellschaft ist in Höhe der einstigen Arbeiterquartiere auch unterirdisch erkennbar. Zwischen Kotti und Rosenthaler Platz steigen deutlich mehr junge Menschen mit Messengertaschen und anderen Insignien entschlossenen Aufstiegswillens zu ­ die Aktentaschenträger vom Hackeschen Markt dagegen, die auch eine Weile den Berliner Untergrund erprobten, haben sich längst wieder in ihre individuellen Blechkarossen geflüchtet. Zwischen Neukölln und Kreuzberg ist die Wahrscheinlichkeit einer Fahrkartenkontrolle deutlich höher als zwischen Mitte und Wedding, und an der Bernauer sind die jungen Männer unübersehbar, die hier bevorzugt ihre Drogengeschäfte abwickeln.

Überraschungen sind dennoch nicht ausgeschlossen: Zwischen Kotti und Moritzplatz kann man ganz nebenbei die Reanimierung einer ausgestorben geglaubten Sprache erleben. Drei Jugendliche unterhalten sich gerade über einen „knorken Place". Knorke. Woher sie das wohl haben? Darüber sinnt man nach, während eine Touristin fragt, was eigentlich eine „Metrotram" ist – eine Straßenbahn zur U-Bahn? –, bis in Wittenau dann der Rest aussteigt: die drei jungen Polen mit den Tüten voller Zwiebeln, Kartoffeln, Chips und Pasta, der erschöpft aussehende Türke mit seinem Sohn und einem Rolli voller Taschen, die alte Frau, die seit der Bonhoeffer-Station pausenlos die Hände zwirbelt, und jene verbrauchte Enddreißigerin, die gedankenverloren mit dem in einem Russenladen erworbenen Feuerzeug herumspielt. Traurig blitzt ein blaues Licht daran auf. Dann ist der Bahnsteig leer.

Ulrike Steglich

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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