Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
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Emanzipation der Technik

In Sachen Videoüberwachung bahnt sich eine Symbiose zwischen Polizei und Elektrotechnikverbänden an. Es geht um Profite und gegen Randgruppen

Die sechs wissen nicht, warum sie eingesperrt wurden. Ihr Gefängnis ist ein riesiger Würfel, der aus zahllosen kleinen Kammern zusammengesetzt ist. In manchen sind tödliche Fallen installiert. Aus dem Würfel gibt es kein Entrinnen. Einer der Eingesperrten erinnert sich: Er war an der Errichtung des Bauwerks beteiligt. Sein Beitrag zum Gesamten war unerheblich, allein die Außenmaße sind ihm geläufig. Zum unbekannten Auftraggeber hatte er nur per Telefon Kontakt gehabt. Warum das ganze? Bald wird klar: Die monströse Folterkammer ist sinnlos.

Im Film "The Cube" hat sich die Technik von ihrer Bestimmung emanzipiert. Wir erfahren nicht, warum das Bauwerk errichtet wurde. Wir wissen bloß, daß der Würfel existiert und funktioniert. Einmal errichtet, wäre es unvernünftig, ihn ungenutzt verrotten zu lassen. Das System hat sich verselb-ständigt und ist nur noch um seiner selbst willen da. Es ist bloß ein Film, aber seine Aussage ist aktuell: Die Videoüberwachung öffentlicher Orte, die interessierte Kreise auch in Berlin seit kurzem fordern, hat sich noch nicht zu einem Selbstläufer entwickelt. Doch das kann sich ändern. Erste Tendenzen der Emanzipation der Technik lassen sich auch hier beobachten.

Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektroindustrie e.V. (ZVEI) Hat im Juni ein knapp 60 Seiten starkes Konzept zur Videoüberwachung des Hardenberg- und des Breitscheidplatzes vorgelegt. Mit vermeintlich guten Argumenten legt er den Verantwortlichen das "Ja" zum Einsatz der Technik nahe. Angeblich kann man vom Bereich rund um Bahnhof Zoo und Gedächtniskirche von einem "kriminalgeographischen Raum" reden. Als Beleg für die Gefährlichkeit der betreffenden Plätze dient dem ZVEI die Liste der "gefährlichen Orte", die die Polizei erstellt hat. Die allerdings wird geheimgehalten. Es gibt keine anderen Indizien für die Notwendigkeit der Videoüberwachung als die eigenen Projektionen.

Anständige und unanständige Berliner

Daß die Videoüberwachung der genannten Orte in keinem Zusammenhang mit Kriminalität steht, wird aus den eigenen Ausführungen deutlich: Punker, Taschendiebe, Betrunkene und andere halten sich naturgemäß an belebten Orten auf. Aus der Beliebtheit des Breitscheidplatzes für Randgruppen wie für "anständige" Berliner und Touristen auf eine "günstige Tatgelegenheitsstruktur" zu schließen, ist so zutreffend wie inhaltsleer. In Ermangelung eines Beweises lautet die Begründung für die geforderte Überwachung also: weil sie möglich ist. Der Hinweis auf Leute, "die von ihrem Erscheinungsbild und gesamten Auftreten her sozial auffällig sind, auf Passanten beängstigend wirken und zum Teil polizeilich bereits in Erscheinung getreten sind", ist entlarvend. Die unbestimmte Situationsbeschreibung verstärkt die Angst des Bürgers vor dem Fremden. So tarnt sich die Verdrängung von Randgruppen als Kriminalprävention. Die Elektroindustrie erhofft sich ein gutes Geschäft. Die Zeche bezahlen schließlich die Penner, Punker und Junkies.

Zur Videoüberwachung gebe es keine erfolgversprechende Alternative, behauptet der ZVEI. Die Personalsituation der Polizei sei ohnehin sehr angespannt, der von den Geschäftsleuten beauftragte Sicherheitsdienst sei auf den Hausrechtsbereich festgelegt und die bauliche Neugestaltung sei allenfalls eine flankierende Maßnahme. Kleiner Aufwand, große Wirkung: Mit je zwei Kameras könne man die Jebensstraße und den Bahnhofsvorplatz ins Visier nehmen. Mit sechs Kameras sei jeder Winkel rund um die Gedächtniskirche erfaßt. Die genauen Positionen sind auf den beiden Satellitenphotos eingezeichnet.

Den Vorwurf des Mißbrauchs sucht der ZVEI gleich zu entkräften. Auch hier stimmt der Verband das hohe Lied der Technik an. Mit ihrer Hilfe "können Videosysteme inzwischen auch so ausgelegt werden, daß der Beobachtungsraum in seiner Tiefe und in Bezug auf einzelne Örtlichkeiten exakt eingegrenzt werden kann. Bedenken, es könnten gläserne Räume und gläserne Menschen entstehen, lassen sich mit technischen und organisatorischen Mitteln ausräumen." Das soll beruhigend sein, ist es aber nicht. Die Ingenieure, die Dinge tun, weil sie getan werden können, versuchen uns weiszumachen, daß sie ihre Möglichkeiten nicht voll ausschöpfen wollen.

Sprache für den Kontrollalltag

In der Gewißheit, daß harte Fakten besser als alle Argumente sind, präsentiert der ZVEI am Ende der Studie drei Kostenvarianten. Wer kann sich angesichts dieser rationalen und objektiven Präsentation noch verweigern? Die Anlage zu kaufen, würde sich etwa auf gut 233.000 DM belaufen. Die Variante "infrastrukturelles Betreibermodell" demgegenüber, bei der Polizeibeamte die Anlage bedienen würden, beliefe sich auf einen monatlichen Mietzins von 12.446 DM. Die Lösung gesellschaftlicher Probleme wird zur Variable einer betriebswirtschaftlichen Kalkulation.

Der Verband hat sein Produkt vorgestellt, für das ein Markt vorhanden ist. Ein Abnehmer wird sich finden. Wir sollten uns mit dem Gedanken anfreunden, daß die Videoüberwachung öffentlicher Orte eingeführt wird. Deshalb ist es an der Zeit, eine neue Sprache zu lernen, deren Vokabeln für den Kontrollalltag Gegenlichtkompensation, Spitzlichtauslastung, Bildaddition, automatische Blendensteuerung, digitale Signalprozessoren, Infrarot, Videosensorik, Fernparamentrierung, Dome, Multiplexer und Ausleuchtungsfeld lauten.

"The Cube" ist bloß ein Film. Ein Würfel wird nicht errichtet. Wir knüpfen an einem unsichtbaren Netz. Alle Mitwirkenden beschäftigen sich allein mit dem kleinen Detail, das sie unmittelbar betrifft. Die Tankstelle, die Botschaft, die Bankfiliale, das Amt, die Polizei - alle observieren, sammeln Daten, werten aus. Alles ganz legal. Das Netz der Videoüberwachung wird an vielen Enden geknüpft. Es hat keinen Ursprung und kein Zentrum. Ein Mensch, eine Institution oder eine Behörde, die für das Netz verantwortlich zeichnete, läßt sich nicht erkennen. Und irgendwann wird es zu spät sein. Wir werden das Netz nicht wehr loswerden, selbst wenn wir wollten.

Benno Kirsch

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