Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
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Alles im Blick

Plötzlich redet jeder vom gefährlichen Rechtsextremismus. Aber was kommt danach?

Man reibt sich verwundert die Augen. Noch Anfang Juli galten die ständigen rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundesrepublik als ein zwar übles, doch minderrangiges und durch unverbindliche Mahnungen hinreichend behandeltes Problem. Schließlich drückten daneben auch viele leichter zu bilanzierende Schwierigkeiten das Land, etwa seine hinkende Anziehungskraft als Wirtschaftsstandort, seine verschuldeten Krankenkassen, teure Arbeitslosigkeit oder der Sinkflug des Euro. Seit einigen Wochen indes ist die ganze deutsche Öffentlichkeit scheinbar nur noch mit dem einen Thema befasst: mit der im direkten Sinne tödlichen Gefahr, die vom sich ausbreitenden Neofaschismus für das hiesige Allgemeinwesen ausgeht. Egal, welche Zeitung man derzeit in die Hand nimmt, welchen Knopf im Fernsehen oder Radio man einschaltet, egal, welcher Politiker sich zitieren lässt - in nie gesehenem Ausmaß widmen sie alle sich den verschiedensten Erscheinungen des Fremdenhasses. Sie alle betreiben oder behaupten Milieustudien, warnen eindringlich und fordern ausdrücklich.

Ins Blickfeld gerät diesmal beinahe jede denkbare Nuance: das sind die aktuelle Rechtslage, die Organisationsstrukturen der Neonazis, ihre Internetseiten oder staatliche Parteienfinanzierung, ihre offen veranstalteten Geheimkonzerte, die Situation dunkelhäutiger oder türkischer Kinder in der Schule, die ausländischen Fußballer und einheimischen Fans von Energie Cottbus. Das sind auch Straßenbahnfahrer, die sich rechten Prügelbanden entgegenstellen, Richter, die einen Gewalttäter tatsächlich bestrafen, Bürgermeister oder Gewerkschafter, die in ihrem Bereich gegen die Szene aktiv sind. Derzeit kann jeder Steinwurf in die Scheibe eines vietnamesischen Ladens, jedes Hakenkreuz an einer Hauswand einen Leitartikel bewirken. Inzwischen halten viele der öffentlich Redenden gar ein Verbot der NPD, als der gegenwärtig strukturiertesten Gruppierung der Rechten, für wichtig und richtig.

Schweigende Mehrheit aufrütteln

Keine Frage, es rauscht eine Kampagne durch Deutschland, und auf kaum zufällige Weise fiel sie mit dem berüchtigten Sommerloch zusammen. Zwar wird sie gewiss kaum einen aktiven Neonazi davon abbringen, sich brutal um "national befreite Zonen" zu kümmern. Aber sie hat trotzdem einen beträchtlichen Nutzen. Denn mehr als auf die schon manifesten Neofaschisten wirkt eine solche Agitationswelle auf eine zweite Schicht: die vielen Durchschittsbürger, welche sich im Stillen als ein persönliches Verdienst und exklusives Vorrecht einbilden, ausgerechnet in der Bundesrepublik geboren zu sein. Jene Bürger also, die den latenten Rechtsextremismus neben dem offenen stellen und zugleich dessen Boden sind.

Wenn sich die Medien, vor allem aber die führenden Politiker jetzt endlich einhellig und eindeutig gegen den Neofaschismus positionieren, wenn sie statt bloßem Gut-Zureden und therapeutischen Heilmethoden endlich Unduldsamkeit und Sanktionen versprechen, dann kann dies jene diffuse Mehrheit beeindrucken, die immer das Schwergewicht jeder Gesellschaft darstellt und letztlich darüber entscheidet, ob diese Gesellschaft umkippt - sei es aus Einsicht oder aus Angst und reinem Opportunismus, um immer auf der aktuell stärkeren Seite zu stehen. Schließlich, so bedauerlich das ist, gibt erst eine solche Positionierung der Führung auch vielen Gesetzeshütern in Polizei, Gerichten und Verwaltungsstuben das notwendige Rückgrat, um die geltenden Gesetze tatsächlich durchzusetzen.

Fader Geschmack

Aber der fade Geschmack des Kampagnenhaften verrät einiges über den Zustand der Republik. Zu denken geben nicht nur der Anlass und Auslöser: Der erste bestand in einem Satz von Paul Spiegel, dem Präsidenten des deutschen Zentralrats der Juden: "Uns bläst der Wind stärker als jemals zuvor ins Gesicht." Das musste die hiesige Gesellschaft beschämen. Zum endgültigen Anstoß wurde dann der Sprengstoffanschlag in Düsseldorf, bei dem sich Spiegels Befürchtung sogleich bewahrheitete, auch wenn die betroffenen Sprachschüler wohl eher als Russen denn als Juden wahrgenommen werden. Erst diesmal schritt die derzeitige, westdeutsch geprägte Elite der Bundesrepublik, wo sie sich plötzlich selbst getroffen sieht, ein: weil nun zum einen die Gewalt unübersehbar nicht den Ostteil betraf und weil zum anderen die Warnung vor den Rechten, die zuvor schon so viele ungehört ausgesprochen hatten, nun auch von der jüdischen Minderheit kam.

Maulheld Staat?

Und zu erwarten ist auch, dass die Diskussion nach diesen Wochen der Selbstversicherung abflauen und ohne Ergebnis begraben wird. Doch das verheißene Eingreifen gegen die Neofaschisten muss auch nach dem Sommertheater durchgehalten werden. Andernfalls diskreditiert sich der Staat in dieser Frage endgültig als Maulheld und erreicht statt einer Sammlung der Bürgermehrheit unter seinen antifaschistischen Fittichen das Gegenteil. Andererseits können auch größere Härte gegen Nazis und ein Verbot etwa der NPD nur der erste Schritt sein. Denn erstens würden neue rechte Organisationen schnell die alten ersetzen. Und zweitens kann mehr Staatsgewalt bald auch mehr Gegengewalt erzeugen. Folgen muss deshalb eine ernsthafte, nicht nur in der kurzen Politikkonjunktur versprochene Abhilfe bei den Ursachen für den Radikalismus.

Zu den Tatsachen, mit denen man sich beschäftigen muss, zählt, dass die Rechten nicht zufällig ihr Bedürfnis nach einem Gruppenleben mit dem Anspruch auf einen exklusiven Status verbinden. Sie spiegeln damit zum einen die Unruhe vieler angesichts der immer weiter liberalisierten (lies: verringerten) sozialen Angebote. Überdies aber verwirklichen die Rechtsradikalen in extremer Weise genau jenes persönliche Durchboxen im allumfassenden Wettbewerb, das derselbe Staat permanent propagandiert. Neben den Gewalttätern aus Übersättigung und Langeweile stehen die vielen, die den Status des "Losers" lieber weitergeben wollen. Sie suchen die Befriedigung des Stärker-Seins und unterliegen dabei einem mit jeder Aktion sich steigernden Selbstbestätigungsfieber. Die Aggression trifft die Fremden, meint aber oft die Staatsautorität. Der heutige Rechtsextremismus ist so das Produkt der Bundesrepublik, auch wo sie das vielschichtige Erbe der DDR angetreten hat.

Stefan Melle

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