Ausgabe 08 - 2000berliner stadtzeitung
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Charms, Fasane und Weinlesungen

Das "Walden" - Die "grüne" Kneipe mit literarischem Anspruch

"Eine alte Frau lehnte sich aus übergroßer Neugierde zu weit aus dem Fenster, fiel hinaus und zerschellte. Aus dem Fenster lehnte sich eine zweite alte Frau und begann, auf die Tote hinabzuschauen, aber aus übergroßer Neugierde fiel auch sie aus dem Fenster, dann die vierte, dann die fünfte. Als schon die sechste Frau hinausgefallen war, hatte ich es satt, ihnen zuzuschauen, und ging auf den Malcev Markt, wo man angeblich einem Blinden einen gestrickten Schal geschenkt hatte."

Die Schauspielerin läßt mit gespitzten Lippen den Text von Daniil Charms sinken. Es ist ein Montagabend. Die Restauration Walden hat zum Literarischen Salon gerufen. Diesen bestreitet das Frauentheater Mäanda mit den umwerfend paradoxen Texten Charms unter dem Titel "Die herausfallenden Frauen".

Wenn man das Walden in der Choriner Straße 35 aufsucht, fällt zuerst die dichte Knöterichhecke auf, die sich wie ein Dach über den Gartentischen draußen ausbreitet. Im schmalen Durchgangszimmer neben der Bar dominiert ein Vertiko mit Samowaren. Der Blaue Salon dient Lesungen, Konzerten, wird für Ausstellungen und zum Billardspiel genutzt.

Am 1. Mai diesen Jahres feierte das Walden sein zweijähriges Bestehen. Den Betreibern, der Regisseurin Eva Jankowski, dem Musiker und Meisterkoch Mathias Beck und Peter Bongardt, der Theaterwissenschaften studiert hat, geht es nicht allein um die Bewirtung. "Wir wollten nicht nur Getränke verkaufen, Wort, Musik und Literatur sollten einfließen.", führt Eva aus. Ein Freund erzählte von H.D. Thoreau´s "Walden". Die drei lasen es und waren begeistert. Thoreau lebte Mitte des vorletzten Jahrhunderts zwei Jahre lang in den Wäldern Massachusetts, quasi als erstes "grünes Experiment". Thoreau bot mit seinen Niederschriften zum Leben in den Wäldern ein Augenzwinkern zu Marx und Engels, inspirierte Gandhi, englische Gewerkschaften und schießlich Hippies und Wehrdienstverweigerer.

Es wird kaum Werbung gemacht, nur den monatlichen literarischen Salon kündigen Hausdame und -herren an. Ansonsten kommen handverlesene Gäste zum "Hörspiel zum Zugucken", zu den "Spezialitätenwochen" und Konzerten.

Mathias, Eva und Peter ist die Freude an ihrem Laden anzumerken. "Wir haben soviel Platz, da kann jeder kommen und machen, was er will. Wir machen keine Zensur, aber eine Qualitätskontrolle!" Ideen und Anregungen gibt es genug. Bis jetzt funktioniert der Salonabend über Kollekte.

"Ich bin kein Gastronom, sondern ein ganz normaler Mensch", sagt Eva Jankowski, deren Charme einen Anziehungspunkt des Waldens ausmacht. Offenherzig gehen sie und ihre beiden Mitstreiter auf ihr Publikum zu. Sie zeigen Sonntags Märchenfilme für Kinder, organisieren das jährliche Kiezfest mit und sind für jeden halbwegs geistreichen Kulturstreich zu haben.

Anne Hahn

Jeden Sonntag 20 Uhr "Literaturlabor - Lauter Niemand" (offener Abend für alle, die eigene ca. 10 min. lange Texte lesen wollen und sich der anschließenden Diskussion stellen)

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