Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
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Bürgerfunk - ein Thema aus dem letzten Jahrtausend?

Ein Schwenk von Paris nach Berlin in Sachen Bürgerzugang zum Fernsehen

Es ist der 11. März 2000. Wir sind in Paris. Heute senden von vielen verschiedenen Orten aus kleine Piratfernsehstationen mit begrenzter Reichweite. Selbstgemachtes kann hier auch an anderen Tagen empfangen werden. Zum einen gibt es bereits in ganz Frankreich legale, jedoch immer nur für ein Jahr lizensierte freie Kanäle, zum anderen hantieren Schwarzsendeanlagen mit Eigenbautechnik. Heute aber geht es um mehr: Die Sender vermitteln ihre gemeinsame Forderung nach langfristig freigemachten Kanälen für Freies Fernsehen. Freies Fernsehen funktioniert nach dem Konzept der Selbstverwaltung: Das Medium ist offen zugänglich. Jedoch existiert ein koordinierendes Organ, in dem sich die Nutzer über eine Programmstruktur verständigen. Unterstützt wird die Initiative sogar von der französischen Kulturministerin Mme. Trauthahn.

Bürgerfunk und Selbstverwaltung - atmet das nicht den Geist von Betroffenheit und handeingefärbter Rippunterwäsche? Lange tot, und das zum Glück? Sendungen, in denen Advokaten aller unterdrückten Minderheiten solange auf deren Belangen herumreiten, bis auch der letzte Gutmütige jegliche Sympathien verloren hat?

Die Pariser Lokalstation "Tele Bocal", zu deutsch etwa "Fernsehaquarium", zeigt ein anderes Bild. Sie amüsiert ihr Publikum mit Trash-Ironie auf das richtige Fernsehen. In ihrem Magazinprogramm z.B. wird serienweise ein biblischer Monumentalfilm dargeboten, der in Paris spielt, mit vielen falschen Bärten und echt biblischen Leibchen. Zwischen den Beiträgen erscheint ein Sendemaskottchen mit viel Sexappeal: die schöne Adonis. Es gibt auch ernste Beiträge im Programm, aber nicht ständig.

Angesichts des Fernsehoverkills hat sich das Bedürfnis, dem Kommerziellen etwas Eigenes entgegenzusetzen, keineswegs überlebt, jedoch hat es sich verschoben. Anstelle des Versuchs, zwischen den perfekten Clips mit einem semiperfekten Programm dem Zuschauer noch ein wenig Aufmerksamkeit für ein paar unterbliebene Informationen abzuringen, ist eher der Ansatz getreten, Sehgewohnheiten und Programmästhetik insgesamt zu ironisieren. Ähnlich arbeitet Kanal B in Berlin, ein frischgegründetes Videomagazin, das über Kassettenverkauf in Kneipen verbreitet wird. Mit selbstbewußter Unprofessionalität zeigt Kanal B "Reportagen aus dem echten Leben, hausgemachte Kurzfilme und schlechte Musikvideos".

Wir zappen in den parlamentarischen Entscheidungsfindungsapparat in Berlin. Hier sieht man - ganz im Stil der weltläufigen Hauptstadt - kaum über den eigenen Tellerrand hinaus. Im Abgeordnetenhaus wurde bis vor kurzem noch der einzige Fernsehkanal mit Bürgerzugang politisch torpediert: der Offene Kanal Berlin (OKB). Während die Gegner den Bürgerfunk "als Kind der siebziger Jahre" abtaten (Andreas Köhler, SPD), versuchten Lobbyisten teilweise den OKB schöner zu reden als er ist. Zurecht kam der wütende Aufschrei vieler gegen die Einebnung der einzigen offenen Sendestation jenseits des Mainstream.

Jedoch ist offensichtlich, daß der OKB in seiner Programmstruktur recht schwach auf der Brust ist. Wer hier senden möchte, bekommt in der Regel ein Formular in die Hand und wird anschließend mit seinem Sendebedürfnis am Ende einer Warteschlange plaziert. Das führt sowohl zu einer Beliebigkeit und Zusammenhanglosigkeit des Programms, als auch dazu, daß es kaum Kommunikation unter den Nutzern gibt. Interessanterweise hat der Angriff auf den OKB den Nebeneffekt, daß zum erstenmal seine Nutzer anfangen, sich untereinander zu verständigen. Um das Programm zu verbessern und bei der PR zu helfen, hat sich sogar ein Nutzerrat gegründet. Auch Herr Linke, der Chef des OKB, möchte zukünftig durch Thementage und Programmschienen mehr Profil und Struktur zulassen. Vielleicht regt sich in Berlin ja bald, wenn schon kein frischer Wind, so doch wenigstens etwas.
Tina Veihelmann

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