Ausgabe 04 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Musik für die Massen

Frühlingserwachen

Frühling will man immer so richtig haben. Zarte Knospen allein reichen nicht. Sonnenstrahlen sollen es sein, so kräftig, dass die über den Winter eingemotteten T-Shirts endlich wieder zu Ehren kommen. Gewappnet für winterliche Rückfälle, kommen hier die Tipps für skeptische Genießer, die dem April auch einen Schneeregenschauer zutrauen.

Lichtdurchflutet schillert frisches Nadelgrün auf dem Cover. Die Rückseite reiner Sonnenschein durch sommerliches Geäst. Erst auf den zweiten Blick wird die digitale Bildbearbeitung deutlich. Alles zu schön um wahr zu sein. Waren die Vorgängeralben von Wolfgang Voigts Projekt GAS (wie Königsforst und Zauberberg) nur düster, getrieben vom mythenschweren Ballast, ist POP (Force Inc.) deutlich freundlicher gestimmt. Aber auch wenn auf POP die dunklen Bassbeats fehlen, vermitteln die elegisch-elektronischen Endlosschleifen nur bedingt vorsommerliche Freude. Es wie auf einer Lichtung im Wald: Die Übersicht, das Helle hat nur einen beschränkten Raum, und auch wenn das Finstere nicht zu sehen ist - es ist irgendwo da draußen.

Das gleiche Spiel mit vermeintlicher Harmonie betreiben Bohren & Der Club Of Gore. Eigentlich ist es Jazz. Eigentlich ist es Barmusik. Eigentlich könnte man sich zurücklehnen und genießen. Doch hinter den entspannten Arrangements verbergen sich Abgründe. Das könnte daran liegen, das sich die Band vor Sunset Mission (Wonder/EFA) irgendwo zwischen DeathMetal und Hardcore eingespielt hatte. Inzwischen reichen sparsame Pianomelodien, ein dezentes Schlagzeug, ein ruhiger Basslauf und dazu etwas Saxophon für tiefe Beunruhigung. Die Melancholie von Sunset Mission entspricht der Sehnsucht in einer bitterkalten Frühlingsnacht nach mehr Wärme.

Nach so viel Skepsis ob des Frühlings, kommt hier noch ein Plädoyer für größeres Vertrauen in diese Jahreszeit. Bereits mit seinen Vorgängeralben Bricolage und Permutation hat Amon Tobin so etwas wie Pionierarbeit im Grenzbereich zwischen Jazz, Breakbeat und Latin geleistet. Und auch Supermodified (Ninja Tune/Zomba) entspricht diesem Ansatz der permanenten Grenzausweitung. Zum letzten Mal sei hier noch einmal ein jahreszeitlicher Vergleich gestattet, denn Supermodified entspricht in seiner Anlage dem idealtypischen Aprilwetter. Vom sonnigen Swing kippen die Kompositionen in Drum«n«Bass-Gewitter, in denen sich die Stimmung arg verdunkelt. Und wenn man meint, richtig im Regen zu stehen, brechen die Wolken in Form von verspielter Elektroniktüftelei auf, und das Blau des Himmels strahlt in altbekannter Intensität.
Marcus Peter

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 04 - 2000