Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Beim Offenen Kanal alles offen!

Berlins einziger elektronisch verbreiteter Bürgerfunk in der Krise

Der Offene Kanal Berlin (OKB) ist in Gefahr. Das zumindest muss man annehmen, wenn man die Pressemeldungen der vergangenen Wochen verfolgt hat. Seit Jahresbeginn las man in BZ, Kurier, FAZ und Spiegel Artikel, die recht einseitig altbekannte Vorurteile gegenüber dem Offenen Kanal wiedergegeben hatten. Da war von esoterischen Weltverbesserern die Rede, die zuhauf im OKB ihre Spiritualität verbreiten; da war immer wieder von Neonazis die Rede, die ihren braunen Dreck im OKB senden. Wer mit dem OKB vertraut ist, weiß, dass solche Äußerungen sich auf einen geringen Bruchteil dessen beziehen, was insgesamt dort zur Sendung kommt. Und wer die Idee des OKB kennt, weiß, dass Offene Kanäle immer derartige Meinungen zu Wort bringen können, die in der Gesellschaft latent vorhanden sind. Dazu gehören so genannte esoterische Weltverbesserer ebenso wie politische Extremisten. Dass im OKB gelegentlich unter Verantwortung der Nutzer antidemokratische Scheußlichkeiten gesendet werden, spricht einzig und allein gegen jene betreffende Nutzer und nicht gegen das Prinzip Offener Kanal per se! Wer dies in seiner Argumentation missachtet, läuft Gefahr, sich gegen das Prinzip der volkssouveränen Meinungsbildung zu wenden und somit selbst antidemokratisches Denken zu forcieren.

Die Berliner Tagespresse veröffentlichte Mitte Februar Artikel, die jener oberflächlichen Diskussion um Vorurteile ein Ende setzte. Aufhänger für die Diskussion um den OKB sei der junge TV-Sender N24, der gerne im Berliner Kabelnetz einen Sendeplatz hätte. Derzeit in Berlin nur über Satellit zu empfangen, will N24, der eine Konkurrenz zum bereits etablierten Nachrichtensender NTV ist, ebenfalls im Berliner Kabelfernsehen präsent sein. Also wird spekuliert: Verschwindet der OKB-Fernsehen, kann N24 kommen.

Staatsvertrag und Gerüchtecocktail

Formal fordert der Rundfunk-Staatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg den OKB. Um den OKB abzuschalten, müsste dieser Staatsvertrag geändert werden, was nur das Abgeordnetenhaus beschließen kann. Deshalb wirkten Andreas Köhlers Äußerungen, medienpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, auf die Befürworter von Bürgerfunk und Offenen Kanälen beängstigend. Er stellte die Frage, ob der OKB in der Form, wie er im Moment praktiziert wird, noch zeitgemäß sei. Köhlers Koalitionskollege von der CDU, Michael Braun, hat dies mit Genugtuung aufgenommen. Für die CDU sei der Offene Kanal ein gescheitertes Experiment. Innerhalb der großen Berliner Koalition ist die SPD mit einer relativ großen Schnauze eine relativ große Zunge an der medienpolitischen Waage. Lediglich als "Diskussionsanregung" will Andres Köhler seine Äußerungen verstanden wissen. Einen Zusammenhang mit N24 weist er zurück und warnt vor einem "Gerüchtecocktail". Eine frei gewordene Frequenz vergebe schließlich der Medienrat der Landesmedienanstalt in autonomer Entscheidung.

Die Opposition im Abgeordnetenhaus bemängelt vor allem, dass gravierendere medienpolitische Probleme - z.B. zunehmende Deregulierung von Rundfunk-Werbung - in den Hintergrund geraten. Alice Ströver (Bündnis90/Die Grünen): "Sich auf den Offenen Kanal als schwächstes Glied in der Medienkette zu stürzen, ist eher peinlich." Dennoch ist der neue Abgeordnetenkollege Köhler mit jener Peinlichkeit schnell in die Schlagzeilen gekommen. Alles PR oder gar ein Zeichen von Medienkompetenz? Gesine Lötzsch (PDS) weist darauf hin, dass die SPD sich von eigenen Grundsätzen trennen würde, da "im Wahlprogramm der SPD ein Bekenntnis zum Offenen Kanal enthalten" sei. Eine aktuelle Stellungnahme der SPD zum OKB blieb bis heute aus.

Anspruch und Wirklichkeit

Offene Kanäle spiegeln letzten Endes die Medienkompetenz einer Gesellschaft wider. Und um diese ist es in Folge der raschen und verwirrenden Entwicklung der Medien in den letzten Jahren schlimm bestellt. Als gut gilt, was gut inszeniert ist. Nicht die Meinung zählt. Es zählt, wie die Meinung verpackt ist. Bei den TV-Zuschauern ist die Akzeptanz des OKB aus diesem Grunde gering: In Offenen Kanälen wird anders inszeniert, was manch einer mit "Dilettantismus" bezeichnen mag. Das Kernproblem trifft jene Bezeichnung jedoch nicht: Wie kann freie Meinungsäußerung im Zeitalter des Entertainment überleben? Wie kann die Demokratie freie Meinungsäußerung gewährleisten, wenn die Anforderungen an freie Meinungsäußerung auf Unterhaltung und Entertainment ausgerichtet sind und somit nur von BerufsjournalistInnen - von professionellen Inszenierungen - ausgeführt werden können?

Status quo und Perspektiven

Bei den NutzerInnen im OKB macht sich Unmut breit. Man glaubt, das "Neue Berlin" zu spüren, wo für Bürgerfunk kein Platz sein soll. Und bei vielen erhärtet sich die Erkenntnis, dass Pleiten, Pech und Pannen nicht nur auf allen Kanälen, sondern auch im Abgeordnetenhaus auf der Tagesordnung stehen. Jahrelang forderte man wenigstens für das Radio eine terrestrische Verbreitungsmöglichkeit. Derzeit ist das Radioprogramm des OKB nur über Kabel zu empfangen. Für Autoradios äußerst ungünstig! Das frustriert die meisten NutzerInnen. Wozu senden, wenn´s doch niemand empfängt?

Im Bundesgebiet gibt es über 70 Offene Kanäle. Will Berlin als Bundeshauptstadt Vorbild sein, braucht insbesondere Berlin den Offenen Kanal. Und der OKB braucht NutzerInnen, die vor den raschen Entwicklungen der neuen Medien nicht zurückschrecken, sondern Radio und Fernsehen im Zuge der Digitalisierung mitgestalten. Aber wohl bemerkt: Das Internet ist kein Ersatz für den OKB! Wie sich das Internet entwickelt, ist einerseits noch unklar. Andrerseits ist es ein komplett anderes Medium. Man kann nicht eine Tageszeitung schließen mit dem Trost, sie könne schließlich noch Flugblätter drucken.


Sven Schade

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 03 - 2000