Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Onanierende Knaben, abgehackte Köpfe

Theoriemix aus dem Hause Merve

Es ist eine in der heutigen Literatur grassierende Mode, sich mit Texten an Musikmoden anzuhängen - mal mehr an solche mit dem Etikett "Underground" versehene, mal eher an den sogenannten Mainstream. Romane geben dann z.B. vor, "gesampelt" zu sein, wenn sie sich nicht damit bescheiden, eine bestimmte Musikrichtung bloß herbeizuzitieren. Das Phänomen scheint auf die Theorie überzugreifen. Höchstes Mißtrauen ist also angebracht, wenn ein Buch mit dem Untertitel "ein Theoriemix" daherkommt, zumal, wenn es unter einem Verfassernamen firmiert, hinter dem man auch einen DJ vermuten könnte: QRT. Mag sein, daß Markus Konradin Leiner (1965-1996), der sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, auch als DJ gewirkt hat. Er ist jedenfalls, geboren in Konstanz, in den achtziger Jahren nach Berlin gekommen, hat an der FU studiert, sich in der Techno- und Drogenszene herumgetrieben und den Party-Terminkalender [030] mitaufgebaut. Der Merve Verlag will seine nachgelassenen Schriften nun einer größeren Öffentlichkeit empfehlen. Nach Schlachtfelder der elektronischen Wüste ist ein Buch mit dem Titel Tekknologic Tekknowledge Tekgnosis erschienen, einen dritten Band soll es im Herbst geben.

QRT indes ist besser als die modische Verpackung seiner Texte. Der das Buch eröffnende Essay über Techno hat nichts gemein mit den dümmlichen Elogen eines Rainald Goetz. QRT gelingt eine kritische Analyse aus einer großen Nähe heraus. Er durchschaut die Techno-Szene als ein "totalitäres System im Geiste der Heilserwartung", ist auch nicht blind für die Nähe von "Techno world und nazi politics". "Im Raum des Techno wird endgültig alles zur Technik", schreibt QRT, "eine Begeisterungswelle für die Technokratie, wie sie bereits aus den Dreißiger Jahren bekannt ist."

QRT ist mit allen Wassern postmoderner Diskurse, von Foucault bis Virilio und Baudrillard, gewaschen. Seine Themen liegen allerdings abseits der ausgetretenen Pfade, was nicht den geringsten Reiz dieses Buches ausmacht. Eine "analytische Opiatologie" finden wir dort ebenso wie eine "Geschichte des abgehackten Kopfes in Medien und Militärtechnik" und einen erhellenden Text über "Onanie und Pornographie". Das Onanie-Verbot des christlichen Mittelalters, so QRT habe das bürgerliche Subjekt geschaffen: "Die bürgerliche Kultur ist die onanistische Lebensform schlechthin." Was sexuell nicht stattfinden darf, wird auf die ökonomische Ebene übertragen: "Das Kapital ist das eigentliche Produkt: das ins Leere gespritzte Sperma."

Bis zur Publikationsreife sind viele Texte von QRT nicht gediehen. Ob es eine kluge Entscheidung der Herausgeber Tom Lamberty und Frank Wulf war, auch Texte einzubeziehen, die über das Stadium einer Skizze offenbar nicht hinausgekommen sind, darf bezweifelt werden. Schließlich geht es ja erst mal darum, für diesen Autor Interesse zu wecken. Er hätte es verdient.

Ein anderes Buch dokumentiert ein vom Merve Verlag in Saarbrücken veranstaltetes Symposium. Geldgeber war die Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft Saarbrücken (VVS), weshalb man als Thema Licht wählte. Mit dabei: die Gurus der Neue-Medien-Szene, Paul Virilio, Friedrich Kittler und Peter Weibel. Der Saarbrücker Auftritt von DJ Dr. Motte war zum Glück zwischen Buchdeckeln nicht reproduzierbar. Mehr Licht ist ein Theoriemix der eher beliebigen Sorte. Virilio und Kittler raunen von Informationstechniken der Zukunft, von "Optischen Atheisten", "Global Information Dominance" und Photonentechnik, während Henning Lohner von einem Film berichtet, den er zusammen mit John Cage realisiert hat. Wirklich instruktiv sind einzig Wolfgang Hagens "Skizzen zu einer Genealogie der Elektrizität". Friedrich Kittler freilich sieht schon den "Abschied vom Strom" heraufdämmern: "Ohne in die unmögliche Rolle des Propheten zu fallen, scheint dem Licht als Information seine Zukunft noch bevorzustehen." Da kann man dann halt auch nichts machen. Ob das die VVS freuen wird, weiß ich nicht.

Florian Neuner

QRT: Tekknologic Tekknowledge Tekgnosis. Ein Theoriemix. Merve Verlag, Berlin 1999. 18 DM
VVS Saarbrücken (Hrsg.): Mehr Licht. Merve Verlag, Berlin 1999. 24 DM

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 03 - 2000