Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Existentieller Schmerz. "L«Humanité" von Bruno Dumont

Wenn man nachmittags um drei aus dem Kino kommt, sieht man manchmal die Welt so gestochen scharf, dass einem die Augen bluten wollen. Für Pharaon de Winter ist es immer so.

Pharaon (Emmanuel Schotté) ist Mitte Dreissig und lebt bei seiner Mutter. Früher hatte er eine Frau und ein Kind. Sie sind tot. Seitdem ist er meistens allein. Domino (Severine Caneele), seine Nachbarin in der flämischen Kleinstadt, könnte eine Freundin sein, aber dafür liebt er sie zu sehr, nein, dafür sehnt er sich zu sehr nach ihrer Liebe oder vielleicht auch nur nach ihrem Körper, oder vielleicht auch nur nach irgendeinem Körper, der ihn einen Kuss lang aus seiner Verbannung erlöst, in dem er eine Umarmung lang eins werden kann mit der fremden Welt.

Domino liebt Joseph (Phillip Tullier). Oder sie sagt ihm, dass sie ihn liebt. Oder sie will ihn lieben. Einmal sieht Pharaon zu, wie ihre Körper versuchen sich zu lieben. Pharaon ist Polizist. Wenn er in seinem Polizeiwagen sitzt, sieht er aus wie ein kleiner Junge, der davon träumt, irgendwann in einem Polizeiwagen zu sitzen und weiß, daß der Traum nie wahr werden wird.

Pharaon ist der Hüter der Gesetze, die das Leben zusammenhalten, so wie sein Körper ihn zusammenhält, unerbittlich, wenn er, dessen Stimme sonst fast flüstert, sich die Seele aus dem Leib schreien will, an dem Arme so sinnlos herabbaumeln wie lahme Flügel.

Erst wenn die Gesetze der Menschlichkeit gebrochen werden, kann man sich an ihnen festhalten. Ein 11jähriges Mädchen ist vergewaltigt worden. Sein toter Körper liegt verloren in der endlosen Landschaft. Die blutende Scham sieht aus wie das Wundmal einer Heiligen.

Pharaon beweint ihren Tod als wäre es sein eigener. Langsam, unbeholfen sucht er den Schuldigen, fast als wollte er ihn nicht finden. Er wird ihn finden.

Pharaon de Winter war ein flämischer Maler des 19. Jahrhunderts, der in seinen Portraits, laut Autor und Regisseur Bruno Dumont, "nicht die physischen Wahrscheinlichkeiten, sondern die Seelen der Menschen einfangen wollte."

Pharaon wünscht man, daß sie entkommen.

go

Kinostart: 30. März im fsk am Oranienplatz

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 03 - 2000