Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
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oder wie Schiedsrichter ihre Sonntage rumkriegen

In Berlin gibt es etwa 1300 Fußball-Schiedsrichter. Nur einer von ihnen pfeift in der Bundesliga. Der Rest kümmert sich um die vielen wichtigen und vor allem unwichtigen Spiele in den unteren Spielklassen. Wie jeden Sonntag ist Rüdiger Lorenz auch heute wieder von zuhause losgefahren. Seine Frau und seine drei Kinder haben ihm alles Gute gewünscht. Heute sind sie nicht mitgekommen, vielleicht weil es zu kalt ist. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn inspiziert Lorenz den Platz, prüft die Netze und beobachtet das momentan noch laufende D-Jugend-Spiel. Ob er denn nervös sei vor dem Spiel? "Nö, keine Spur", antwortet er mit einem glaubhaft unbeteiligten Gesichtsausdruck. Mit hüpfenden Schritten kehrt er in seine Kabine zurück und wartet dort ungeduldig auf die Anpfiffzeit: "Vor dem Spiel und in der Halbzeit langweile ich mich immer zu Tode."

Kickers 1900 gegen FC Nordring

Lorenz ist Schiedsrichter aus Berufung, wie er gerne vorgibt, und Schiedsrichter aus Spaß, wie er heimlich zugibt. Seine Karriere als Referee begann erst spät im Alter von 38 Jahren. Von einer Karriere zu sprechen, lehnt Lorenz in diesem Zusammenhang allerdings ab. Keinesfalls möchte er nach dem Willen der Beobachter pfeifen müssen, die ihn - bei Gefallen - eine Klasse höher einstufen könnten, wo es mehr Geld und vermutlich ansehnlichere Spiele gibt. "Die wollen sehen, dass man dominant ist und sich auf dem Platz durchsetzt. Das mag ich nicht." Dominant ist Lorenz weder auf dem Spielfeld noch außerhalb. Ein kleiner Mann, mit akkurat gestutztem, grauen Vollbart und Augen, die eher zu einem Zehnjährigen passen.

Als Lorenz die beiden Spielerreihen vorneweg aufs Feld führt, hebt sich sein Kopf. Zuschauer sind zu diesem Spiel nicht erschienen. Lorenz´ Zuschauer sind die Spieler und die beiden Trainer. Der Sonntagsvormittagshimmel ist grau. Die Eltern der D-Jugendlichen sind schon verschwunden. Nach und nach tauchen geräuschlos ein paar Gestalten auf, von denen die meisten aufs Spielfeld laufen und sich warmmachen und wenige am Spielfeldrand verweilen und rauchen. Es ist ein Spiel der 2. Herren der Kreisliga A. Kickers 1900 ist Gastgeber in der Monumentenstraße. Das Vereinsheim am Sportplatz hat gerade geöffnet, der einzige Gast ist der Qualm des gestrigen Abends. Kickers empfängt den FC Nordring, das heißt, es spielt der Letzte gegen den Vorletzten einer Liga, die nur aus zweiten und dritten Mannschaften unterklassiger Vereine besteht. Und als wäre die Situation nicht schon reizlos genug, muss Kickers 1900 mit drei Mann in Unterzahl antreten. Noch vor einiger Zeit wäre dieser Umstand für Lorenz ein Grund gewesen, aus Mitleid parteiisch zu pfeifen. "Doch dann kriegt man Ärger mit der anderen Mannschaft", und das stört die Harmonie. Harmonie gehört zu Lorenz obersten Geboten.

Schiedsrichterehre

Heute beherzigen alle Beteiligten sein Gebot. Vielleicht auch, weil durch das unterschiedliche Zahlengewicht der Mannschaften eh alles entschieden scheint, zumal der in Überzahl spielende FC Nordring nach nicht einmal 30 Sekunden mit 1:0 in Führung geht. Alles läuft sehr harmonisch; nur der Nordring-Trainer, Typ bissige Bulldogge, bringt Unruhe rein, indem er seine Leute immer und immer wieder lautstark auffordert, sich einen direkten Gegenspieler zu suchen. Dass das zahlentechnisch für die Spieler nur schwer umzusetzen ist, scheint ihn nicht zu stören. Auch als der "Zehner" der Kickers mit professionellem Griff an den Oberschenkel, ganz im Stile von Lothar Matthäus, das Spielfeld verlässt und gen Kabinentrakt verschwindet, verstummt sein flehentliches Gezeter nicht.

Rüdiger Lorenz hört solche Rufe nicht. Er horcht nur dann kurz auf, wenn ein Satz mit "Ey! Schiri!" beginnt, und auch dann schaut er nur reflexartig in die Richtung des Rufers, um sich alsdann gleich wieder dem Spielverlauf zu widmen. Man mag es glauben oder nicht, zur Halbzeit steht es immer noch 1:0.

In der Halbzeit würde Lorenz in seiner engen Kabine, die eine eigene Dusche hat, über die er sich sehr freut, gerne die Bild am Sonntag lesen, so langweilig ist ihm. Doch erstens hat er keine zur Hand und zweitens würde er es sich verbieten, "weil das irgendwie gegen die Schiedsrichterehre geht."

Souveräne Fehlentscheidung

Die zweite Halbzeit des Spiels verläuft ebenfalls nahezu ohne Höhepunkte, nur Rüdiger Lorenz kommt noch zu seinem Auftritt (es steht mittlerweile 1:1): ein Spieler des FC Nordring stürmt in den gegnerischen Strafraum, läuft allein auf halblinker Position auf den Torwart zu. Dieser bleibt verunsichert im Kasten, als ein Kickers-Verteidiger den Heranstürmenden mit einem horizontalen Seitfallsprung von den Beinen holt. Trainer und Spieler von Kickers 1900 schauen beschämt weg. Lorenz bläst beherzt in seine Pfeife, läuft auf den Tatort zu, zögert, versucht nicht bei ihm stehende Spieler abzuwimmeln, will Zeit gewinnen, greift in seine Brusttasche, zieht eine gelbe Karte heraus und zeigt sie dem sich am Boden Wälzenden. Schwalbe! Eine lustige Entscheidung - zur Zeit sehr modern. Nach dem Spiel wird Lorenz sagen, dass er um seine gezeigte Unsicherheit wisse, dass er diese aber mit seiner mutigen Entscheidung wieder ausgebügelt und Respekt bei den Spielern erlangt habe. Das Lachen und unverständliche Kopfschütteln am Spielfeldrand hat er nicht mitbekommen.

Nach diesem Höhepunkt für den Schiedsrichter kommt noch einer für die Bulldogge, der einen Ersatzspieler zu sich ruft, der bis dahin als Linienrichter agierte. Der Junge ist sichtlich nervös. Als einziger seiner Sportkameraden hat er langes Haar und sein Trikot hängt über der Hose, während die anderen ihre Turnhose bis an die Schmerzgrenze nach oben gezogen haben. Weder Bulldogge noch ausgewechselter Spieler scheinen viel von diesem zarten Knaben zu halten. "Der kann ja überhaupt nüscht!", flüstern sie im Chor, als er den ersten Ball, den er bekommt, gleich wieder los ist. Zwei Minuten später macht er das entscheidende Tor, eine zaghafte Jubelgeste und einen prüfenden Blick zum Coach. Der dreht ab, ballt die Faust, bleibt sonst aber still.

Am Montag wird es in der FuWo stehen. Auf der Seite "Unterer Herrenbereich": Kickers 1900 - FC Nordring 1:2. Vom Schiedsrichter wird nichts zu lesen sein, interessiert ja auch niemanden.

Vier gelbe Karten und ein Blumenstrauß

Mit dem Abpfiff des Spieles, laufen die jeweils ersten Mannschaften beider Vereine auf. Ihre Trikots sind sauberer, die Körper sind athletischer, die Brüste stolzgeschwellter und die Hosen hochgezogener. Gleiches gilt auch für den Schiedsrichter. Rüdiger Lorenz ist es auch wirklich egal, dass der Kollege nicht grüßt. Er wird nun duschen, auf dem Weg nach Hause von den gerade verdienten 25 Mark einen Blumenstrauß für seine Frau kaufen und seinem Sohn erzählen, dass er vier gelbe Karten gezeigt hat. Dann ist das Spiel für ihn vorbei und er kann in aller Ruhe auf den Mittwoch warten, wenn vom Verband die Ansetzung für das nächste Spiel im Briefkasten liegt.

Stefan Hoffmann

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