Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Befehl von oben: Kreative Unruhe

Die Armutskonferenz von unten läßt die eigentlichen Experten zu Wort kommen

Die alte Frau zog in der großen Sommerhitze den Einkaufsroller hinter sich her. Die Tasche fehlte, stattdessen hatte sie kleingemachtes Holz von Obstkisten bis hinauf zum Griff gepackt und sorgfältig verzurrt. Vielleicht für ihren Badeofen oder als Wintervorrat gedacht. Jetzt schon an den Winter zu denken und billiges Holz zusammenzusuchen, wirkte zwischen den ganzen Leichtbekleideten seltsam fehl am Platz. Außerdem waren Ofenheizungen sowieso für die Zukunft nicht mehr vorgesehen. Sie zerrte den Roller die hohe Bordsteinkante hoch, ganz darauf bedacht, dass das Bündel nicht verrutschte. Die Sommergäste vor der Kneipe in der Oranienburger Straße nahmen sie kaum zur Kenntnis. Auch die alte Frau kümmerte sich nicht um ihre Umgebung, sondern lief an den Tischen entlang Richtung Auguststraße ohne zur Seite zu blicken.

1991 stimmten nicht wenige für den Umzug der Bundesregierung nach Berlin in der Hoffnung auf eine größere Nähe von Regierung und regiertem Volk. Vor allem versprach man sich, dass im Gegensatz zum idyllischen Bonn die sozialen Realitäten in der Großstadt Berlin von den Politikern stärker wahrgenommen werden würden. Im besten Fall träfen sie schon unmittelbar vor ihrer Haustüre auf den Berliner Alltag. Dass die Debatten sich zur Zeit vor allem um Zaunhöhen und Sicherheitsabstände drehen, hätte man mit einigem Realitätssinn dagegen auch ahnen können.

Darauf, dass ihnen demnächst Riester in Friedrichshain über den Weg läuft, wollten die Mitglieder des Erwerblosenvereins "Die Hängematten e.V." dann doch nicht warten und organisierten Mitte Dezember 1999 die "Armutskonferenz von unten". Ihnen war klar, "wenn wir diese Armutskonferenz nicht machen, findet sie nie statt." Mehr als 200 Menschen dachten ähnlich und kamen zu der Veranstaltung zusammen. Auch die Presse zeigte reges Interesse.

Menschen an Gesetze angepasst

Das Besondere in ihrer Ausrichtung der Armutskonferenz bestand darin, dass ausdrücklich die Betroffenen zu Wort kommen sollten. Zwei Tage zuvor hatten sich diversen Gruppen in die Arbeit gestürzt und Erfahrungen und Meinungen zusammengetragen zu Themen wie Familien in Armut, Sozialhilfeberatung, Verdrängung Armer, Beschäftigungsprogramme und working poor, Obdachlosigkeit, Drogenproblematik und Armut. Auf dem Podium kamen nun nicht die üblichen Experten zu Wort, die über Arme redeten oder ellenlange Statistiken vortrugen, sondern die tatsächlichen Erfahrenen ließen das tägliche Leben mit der Armut greifbar werden: die Realität war unmißverständlich präsent. Ein weiterer Vorteil war die große Zusammenkunft von Betroffenen für sie selbst, da viele Erfahrungen mit Ämterwillkür oder anderen undurchschaubaren Regelwerken gemacht hatten. Die Erlebnisse wurden dadurch offiziell vergleichbar und die oft abwiegelnde Behauptung, dass seien alles Einzelfälle, wurde widerlegt. Ein ebenso wichtiger Bestandteil der Konferenz waren die zwischengeschalteten Diskussionen, die nun in dem aktuell erschienen reader zusätzlich zu den Referaten abgedruckt sind. Hier kann man unter anderem nochmal in Ruhe nachlesen, was die lobenswerterweise auch erschienenen Bezirkspolitiker von PDS, Bündnis 90/Die Grünen und SPD im Einzelnen auf die oft unbequemen Fragen geantwortet haben. Die Diskussionen offenbarten aber vor allem, dass die staatlichen sozialen Absicherungen einem abstrakten, rein materiell ausgerichteten und damit lebensfernen Gesetz gehorchen - an das sich die Menschen anpassen müssen. Aus diesem Miss-verhältnis resultiert dann auch der umfangreicher Forderungskatalog, der am Ende der Konferenz verlesen wurde, um die Situation von Erwerbslosen und Armen zu verbessern. Lediglich ein einziger Punkt daraus bezieht sich nicht unmittelbar auf die direkte Veränderung ihrer Situation: Es ist die Forderung nach einem Reichtumsbericht. Darin kämen die anderen "Wertevorstellungen" an die Öffentlichkeit.

Gegensätze mit Tradition

Im letzten Jahr hat Manfred Gentz im Tagesspiegel unter der Rubrik "Visionen für Berlin" einen kleinen Einblick in seinen Kosmos zugelassen: "Arme, am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala stehende Menschen mit schlechter Ausbildung und geringen Berufsperspektiven und wohlhabende, gut situierte Bürger, Reiche und Intellektuelle, hochrangige Wissenschaftler und Künstler lebten in dieser Stadt in unmittelbarer Nachbarschaft. (...) All das hatte Berlin früher und hat es heute. Die Zukunft wird vorhandene und sich neu entwickelnde Gegensätze noch stärker in Berlin sichtbar und fühlbar machen. (...) Gegensätze im sozialen Bereich, in der gesellschaftlichen Stellung, bei Arbeitsinhabern und Arbeitslosen, zwischen den Etablierten, Arrivierten, den Mächtigen und den Bürgern auf der einen Seite und den Habenichtsen, den Asozialen, den Obdachlosen bis zu den Kriminellen auf der anderen Seite wird es weiter, vielleicht sogar vermehrt geben. All das hat in Berlin Dimensionen, die nicht verheimlicht werden können, sondern die sichtbar sind, Spannungen auslösen und nach Antworten rufen. (...) Die Arbeitslosigkeit wird zurückgehen. Und dennoch wird es weiter Arbeitslose und sozial Unterprivilegierte geben, Spannungen werden auf allen Feldern bleiben, die Politik und Wirtschaft ständig herausfordern, die nach Lösungen verlangen, und damit erneut den Kreislauf von kreativer Unruhe in dieser lebendigen Stadt in Gang halten." Manfred Gentz wurde als Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG vorgestellt.
sas

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 02 - 2000