Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Punk-Rocker mit weißem Schal

Billy Childish im Maas-Verlag

Dies ist ein Buch für drei Gruppen von Menschen. Für junge Männer, die Schriftsteller sein wollen. Für alle Menschen, die sich für das Leben von jungen Schriftstellern interessieren. Und für Billy-Childish-Fans. Childish hat in den letzten 15 Jahren ungefähr 30 Gedichtsammlungen veröffentlicht, 80 Musikplatten aufgenommen und 1500 Bilder gemalt. Er ist ein manischer Purist des Kreativen. Einer, der unentwegt produziert, veröffentlicht und lebt, ohne auf die große Kohle scharf zu sein. Ein anarchischer Punk-Rocker, ein Arbeiterdandy, ein Engländer aus Chatham, Kent. Zu Lesungen, Ausstellungen und Konzerten ist er mehrfach in Berlin gewesen. Der Berliner Maas-Verlag, auch sonst Spezialist in der Verbreitung abgründiger Schriften von wütenden Männern (Buddy Giovinazzo, Harry Hass, Mario Mentrup u.a.), ist wohl die richtige Adresse für die Übersetzung des ersten Childish-Romans ins Deutsche. Extra für die deutsche Ausgabe hat der Engländer einige grobe Holzschnitte gefertigt, die das Buch nun illustrieren.

Vom Cover blickt scheu, herzig und sentimental ein junger Mann mit Gel in den Haaren und weißem Schal. Das Schriftstellergenie William Loveday/Billy Childish schildert Episoden aus seinem verleumdeten Dasein mit einer lässigen, dem umherschweifenden Bewusstsein folgenden Präzision. Der junge Autor lebt in einer abgefuckten Bude, hat kein Geld, schreibt unter lustvollen Qualen sein erstes Manuskript, das er wie ein Heiligtum mit sich herumträgt und niemals abschickt, ist in eine bezaubernde, selbst erschaffene Prinzessin verliebt, die nichts von ihm wissen will, hat den üblichen Ärger mit seinen Eltern und ringt verzweifelt mit einer abwegigen Obsession - einer Moorleiche. All das genügt, um den Helden durch einen Alptraum zu schicken, an dessen Ende er mit jugendlichem Trotz auf der Fortsetzung des Scheiterns besteht: "Mich in dieser Nacht zu verlieren".

Was diese Bekenntnisse eines jungen Mannes zu den Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen macht, ist die Unverfrorenheit, mit der der Autor noch die letzte Fliege schildert, die vor ihm über den Tresen wandert, wenn sein Wahrnehmungszoom gerade auf Nahsicht gestellt ist. Dabei schont er weder sich noch seine kannibalischen Gegenüber, die alle nur im Sinn haben, ihn fertig zu machen. Loveday macht sich nichts vor über die Schlechtigkeit der Welt, er verfügt über einen scharfen Verstand und die Fähigkeit, aus seinen Erfahrungen zu lernen. Aber er ist auch ein hilfloser, kleiner Junge mit einem Seesack voller romantischer Vorstellungen. Nach diversen Rückschlägen verläßt er England enttäuscht und setzt mit dem Schiff nach Deutschland über, wo er auf eine Horde bleicher, arroganter und abweisender Menschen trifft. Im Hamburger Milieu werden seine letzten Illusionen von einem respektierten Dasein durch einen Sexpapst und eine Hure zerstört, die einfach nicht verstehen wollen, dass er, unfähig zur Selbstliebe, doch nur jemanden sucht, der ihm ein wenig zuhört. Wer Loveday bis zu diesem Moment begleitet hat, weiß, dass nur eines ihn retten kann: Erfolg oder Liebe, am besten beides. Der surreale Wahnsinn, den Childish beschreibt, und den manch naiver Geist für Schizophrenie halten mag, ist die ganz normale Existenzkrise eines modernen (männlichen) Abenteurers. Childish beschreibt sie in einfachen, knarrenden Sätzen, mit glänzendem Sarkasmus, rücksichtslos die Gegenstände und Schreib-Ebenen wechselnd. Das strengt manchmal an. Es ist abschreckend und entblößend. Kurzum, es ist ein Standardwerk für junge Schriftsteller, warnend, einfühlsam und hilfreich, um mit der Tragik des Lebens klarzukommen.

Stefan Strehler

Billy Childish - "Junger Mann ohne Kleider", Maas-Verlag, 246 Seiten, 28 Mark

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