Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
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Ins offene Messer

Valerij Ogorodnikovs Film "Die Baracke" über das Nichtverzeihen

Unzählige Türen reihen sich beidseits des langen Gangs durch die von trüber Ölfarbe bedeckte Holzbaracke in der kleinen Uralsiedlung Sadka. Anfang der 50er Jahre, gerade als die Sowjetunion sich von Stalin befreit und Berija stirbt, wohnt da hinter jeder Tür eine ganze Familie: die alte Polina mit ihrem tatarischen Mann Karim, der durch eine Granate die Sprache einbüßte und dem sein Pferd ist wie ein Sohn. Nebenan der ansehnliche Milizionär, der sich flugs in die aus Leningrad eintreffende Jungfunktionärin Olga verguckt. Zudem der schwadronierende Fotograf Fogelman, der Aktaufnahmen seiner Nachbarin heimlich auf der Eisenbahn verkauft und sein Holzbein jenen zum Tausch gegen ihre Moral anbietet, die seinen Lebenswandel kritisieren. Mit Uraltapparat und Magnesiumblitzlicht fixiert Fogelman auch alle Ereignisse in der Baracke, eine Hochzeit, die gemeinsame Suche nach einer Pistole im Plumpsklo, das abgesackte Auto des Chefs aus der Stadt. Wie aus dem Fotoalbum geschnitten, sind es die Schlaglichter einer zwangsweisen Lebensgemeinschaft, aus deren Enge Nähe wächst, ein solidarisches Zusammenleben. Allen wird das als etwas Wichtiges in Erinnerung bleiben, obwohl es nur aus der Wohnungsnot entstand. In Russland sind solche Baracken ein vielschichtiges Zeichen - für gewaltigen Aufbruch wie gewaltsame Repression und auch für das ewig Provisorische. Nachdem Stalin 1928 seine Schock-Modernisierung für die kommunistische Wirtschaft begann, entstanden Baracken an jeder Baustelle, ob neues Stahl-, Berg- oder Kraftwerk, Staudammn oder Eisenbahnlinie. Dahinein zogen die Jungen, von Aufbauromantik oder Geld in die Einöde getrieben. Dahin kamen aber auch hunderttausende Zwangsarbeiter, die etwa bei der Kollektivierung der Bauern zu Kulaken erklärt und enteignet wurden oder die sonstiger bürgerlicher Verhaltensweisen verdächtigt waren - "Sonderübersiedler" nannte sie die Bürokratie. Aus den Übergangsunterkünften wurden jahrzehntelange Behausungen, die teilweise noch heute stehen.

Valerij Ogorodnikov hat seinen Film "Die Baracke", der nach Auszeichnungen in Locarno, Moskau und Vyborg parallel zur Berlinale seine deutsche Erstaufführung erlebte, "unseren Eltern" gewidmet, der Nachkriegsgeneration. Tatsächlich erinnert in dem Streifen vieles an sowjetische Filme. Zunächst seine Ästhetik zwischen Schwarz-weiß und einer wie von Patina überzogenen Farbenskala. Nach und nach blicken zudem viele Uralt-Muster der russisch-sowjetischen Kultur hindurch: Der Milizionär als unnachsichtiger Kämpfer gegen Banditen, aber gütiger Richter seiner Anbefohlenen; der aus der Hauptstadt geschickte Amtsträger, der so gefürchtet wie verachtet sich als Kumpel erweist. Die Feste mit Akkordeon und Liedern.

Schließlich der Sieg im zweiten Weltkrieg, dessen Mythifizierung der Sowjetunion eine wichtige Legitimität schuf. Bei den Bewohnern der Baracke wird hinter dem Triumph allmählich auch die Tragödie sichtbar: Außer bei Karim und Fogelman auch bei Olga, deren Verwandte in der Blockade Lenin-grads umkamen und deren Brüderchen die Ratten fraßen, bei Polina, die ihr eigenes Kind füttern ging und bei der Rückkehr die anvertraute Kinderkrippe zerbombt fand.

Ins Zentrum geraten jedoch immer mehr zwei weitere Bewohner des Flurs, Friedrich Karlovich Hartmann, ein kriegsgefangener Deutscher, der im Ort hängenblieb, und Gerka, der Russe, der "als kleines Licht" dem deutschen Besatzungskommandanten diente. An beiden klebt das Wort "Faschist" unabwaschbar, Synonym für das Böse schlechthin, besonders in Russland. Gerka, dem eigenen Landsmann, verzeihen die Barackenbewohner den Verrat nicht. Als Ausgestoßener wird er bald geisteskrank. Hartmann dagegen ist als Freund in die Baracke aufgenommen, hilft gar dem Polizisten. Aber auch für ihn ist die Vergangenheit ein Fluch: Als beim Hochzeitsfest alle aus guter sowjetischer Gewohnheit ein antideutsches Kriegslied singen, läuft Friedrich hinaus und der erbitterte Gerka ihm ins offene Messer. Es ist die tödliche Logik des Nichtvergebens.

Da ist es doch kein Film, der in der Sowjetunion hätte gedreht werden können, eher ein spätes Werk der Perestrojka, subtil und warm aus der alten russischen Intelligenzia. Hier ist das Fragen nach der jüngeren Vergangenheit noch virulent, wie auch "Moloch" von Alexander Sokurov über die internen Verhältnisse der Reichsführung um Hitler zeigte (siehe Scheinschlag 1/00). Russland als ganzes dagegen ist vor allem mit der Gegenwart beschäftigt. Freilich: wenn die Armeeführung und nun die neue Regierung den Wiederaufbau der Streitkräfte finanzieren, erinnern sie gern an die alte Größe der Roten Armee und ihren Ruhm nach 1941.
Stefan Melle

Verleih: VIA-Film, 14482 Potsdam, R.-Luxemburg-Str. 8, Tel./Fax. 03301-740 57 30

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