Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Grob geschliffenes Rohmaterial

Der Alltag als öffentlicher Auftrag

Ein Gewerberaum in der Neuen Schönhauser Straße im Zwischenstadium. Ein Podest trennt den langgezogenen rückwärtigen Bereich vom vorderen, der Boden ist mit Holz ausgelegt. Hinter der sorgfältig verspachtelten Deckenverkleidung verbergen sich die zahlreichen neuverlegten Kabel. Einzig deren Enden sind sichtbar und baumeln in regelmäßigen Abständen von der Decke. Später werden dort die Lampen angeschlossen sein, die die Restauranttische und die Bar beleuchten.

Vorfristig belebt wird diese nur kurzzeitig erkennbare Rohhülle durch drei provisorisch aufgestellte Fernseher, in denen Interviews mit Einzelpersonen gezeigt werden. Die gesamte Situation erinnert nicht an eine Ausstellung sondern an eine Materialsammlung, in der die einzelnen Bestandteile einer "Feldforschung" sichtbar bleiben. In den Interviews werden die Befragten von der Kamera eng erfasst, die Interviewer selbst werden nicht gezeigt. Auch die Fragen sind vollständig herausgeschnitten, so daß im Endergebnis Sequenz auf Sequenz folgt, in denen die Person vermeintlich nun "ungefragt" dem Zuschauer beständig Selbstauskünfte gibt.

Der Einstieg ist bei allen dreien der unmittelbare Tagesbeginn, die Uhrzeit des Aufstehens. Der eine steht um kurz vor vier auf, der andere so gegen sechs. Im weiteren Verlauf der Videos erwacht der gerade vergangene, ganz individuelle Tag noch einmal aus der Erinnerung. Ohne allzu strenge Chronologie erfährt man, dass der eine zuerst am Tag die Haare seiner Freundin gerochen hat, der andere die Apfelsine, die er zum Frühstück gegessen hat. Zumindest glaubt er, dass es so gewesen sein muss - er erinnert sich eigentlich nur an die Tatsache, dass er eine gegessen hat. Ganz sicher an einen Geruch erinnert er sich erst zum Mittagessen: die Bockwurst an seinen Fingern. Der eine hat während des Tages Freunde getroffen und mit seiner Mutter telefoniert, der andere musste an irgendwelchen Meetings teilnehmen.

Ein Ausschnitt von 24 Stunden

Drei Tagesabläufe werden nacherzählt, keine spektakulären Ereignisse werden geboten. Der Zuschauer bleibt stummer Zeuge eines vertrauten und zugleich fremden Alltags. Weder erfährt er das Alter noch den Beruf der Befragten. Lediglich auf den grob gerasterten großen Fotos der Interviewten, die wie Beweiselemente im vorderen Raum aufgehängt sind, ist das jeweilige Datum des Interviewtermins als Anhaltspunkt aufgedruckt. Weiteres "Rohmaterial" sind die neben den Fernsehern hingelegten Fragekataloge, in denen man die immer gleichlautenden Fragen nachlesen kann. Ebenso sind die späteren Abschriften der Interviews auf einem anderen Tisch zu finden.

Die Interview-Installation "24 h" bildet den Rahmen und die Arbeitsgrundlage für eine Veranstaltungsreihe, die aus unterschiedlichen Bereichen der Künste, Wissenschaft und Technik sich dem Alltag nähert, die Verbindung von Arbeit und Öffentlichkeit untersucht und dazu temporär in leerstehenden Läden, Büros und Galerieräumen unterkommt. Fortlaufend werden weitere Interviews querbeet durch alle Bevölkerungsgruppen geführt, die die Ausstellung konstant erweitern.

Kassenschlange trifft Zuhörer

Fern jeglichen Kunstanspruchs könnte man die Installation als Versuchsanordnung verstehen, die in eine Art Selbstbeobachtung des Besuchers mündet. Da die Interviews an öffentlichen Orten wie Restaurants oder Kneipen geführt wurden, (die Personen konnten sich den Ort selbst aussuchen, die Hintergrundgeräusche bleiben hörbar), kann sich jeder ohne weiteres vorstellen, eine eigene, zufällige Bekanntschaft vor sich zu haben. Ungewohnt ist allein die Intensität der Auskünfte, die das gewohnte Maß einer alltäglichen Unterhaltung übertrifft. Da die Personen mehr oder weniger beliebig ausgewählt wurden, kann man in ihnen Stellvertreter von alltäglichen Begegnungen erblicken. Konsequent weitergedacht wird so der Sitznachbar in der U-Bahn, die Frau in der Kassenschlange, der Passant auf der Straße ein mögliches Gegenüber, das seinen Alltag erzählen könnte. Bleibt die Frage, wie aufgeschlossen der Zuhörer überhaupt ist beziehungsweise sein will. Vor allem, wenn er nicht zehn sondern fünfzig Erzählungen ausgesetzt wird.

Der eigentliche Anlass der Installation, das Material in weitere Bearbeitungen miteinzubeziehen findet Ende Februar statt; sozusagen eine erste "Sichtung" wird von Schauspielern und Regisseuren vorgenommen, die sich - neben anderen - unter dem Veranstaltungsbegriff TEMAT zusammengefunden haben. Sie führen ein Stück auf, das den Alltag eines Paares zeigt.
sas

bis 4. 3. Interview-Installation, Neue Schönhauser Straße 20, fon 44 73 52 23, Mo.-Fr. 14-20 Uhr (ab 1. 3. erst ab 17 Uhr geöffnet); Theaterstück Premiere 26. 2., weitere Vorstellungen 27. 2.; 2.-4. 3., immer 20 Uhr

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