Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
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Angriff auf den alltäglichen Menschen

Ein Interview mit dem Künstler Dieter Lund über seine Theaterarbeit mit Mehrfachbehinderten am integral-theater

Dieter Lunt ist dem Publikum zwischen Mitte und Prenzlauer Berg von diversen schrägen wie schwierigen Performances, Super 8- und Videoprojekten her bekannt. Mit behinderten Schauspielern hat er im letzten Jahr ein Theaterprojekt in der Freizeitstätte Integral aufgebaut. Als vom Kunstverein Friedrichstadt e.V. ausgewählter und vom Bezirksamt Mitte mit EU-Geldern geförderter Künstler hat er sich gemeinsam mit seiner Theatergruppe mit einer denkwürdigen Performance im Rathaus Mitte bedankt. scheinschlag führte dazu ein Interview mit dem gelernten Kulturwissenschaftler.

scheinschlag: Vor kurzem habe ich deine Performance "amt" gesehen. Du hast sie mit Schauspielern des integral-theaters aufgeführt. Die Schauspieler traten unvermittelt auf das Publikum zu und verteilten Formulare, mit der Bitte diese auszufüllen. Die Reaktionen des Publikums auf die Schauspieler waren recht verblüffend. Sie reichten vom verunsicherten Lachen bis hin zur Empörung. Was ist da passiert?
Dieter Lunt: Das Stück "amt" hat eine befreiende Wirkung auf die Darsteller ausgeübt. Die Spieler konnten dadurch die Strukturen ihres Alltags brechen. Das Publikum dagegen konnte seine klischeehaften Gedanken zerbrechen - wenn es denn überhaupt welche hatte.

Wie ist das integral-theater entstanden?
Am Anfang des Projektes "Künstlerhilfe" wurden den Künstlern Arbeitsstätten vorgestellt. Darunter auch das Integral. Hier werden Schwerstbehinderte betreut. Die Leiterin brauchte jemanden, der Theater spielt. Und ich war der einzige aus unserer Gruppe, der sich derart extremen Leuten gewachsen fühlte. So fand sich Ende September 1998 dann eine Gruppe in einem kleinen Gymnastikraum zusammen, die aus Spastikern, Down-Syndromern, Rollstuhlfahrern u.a. meist Mehrfachbehinderten bestand. In der Kunst trifft man Behinderte selten. Das Publikum schien sich mit der Situation ziemlich schwer zu tun. Vielleicht können meine Darsteller die Wirklichkeit spielen. Und die hat ja noch niemand verstanden. "amt" war kein harmloser Sketch, so wie es angekündigt war. Und "amt" hat nicht den Alltag sondern die alltäglichen Menschen angegriffen. Es ist oft besser, eine Überaschung erstmal zu verdrängen, um später in Ruhe oder anderen Situationen nochmal darüber nachzudenken. Ich selbst jedenfalls finde meine Position häufig erst, wenn es für den spontanen Applaus zu spät ist. Rauschender Beifall ist deswegen schön, aber niemals entscheidend.

Du hast mit deiner Theatergruppe mehrere Stücke mit Behinderten für Behinderte inszeniert. Wie groß ist der Schritt von da vor ein sogenanntes "nicht-behindertes" Publikum?
Klein. Allerdings sind die Spieler über jeden Kontakt froh, der über ihren fast geschlossenen Kreis hinaus reicht. Vor einem Jahr haben wir in der Brotfabrik vor einem Publikum, das als nicht-behindert gilt, gespielt. Die Freude darüber hat bis jetzt gehalten und die Spieler motiviert.

Welche Bedeutung hat die Theaterarbeit im Leben der Schauspieler vom Integral?
Das ist sehr unterschiedlich. Für sie ist es ein Spiel. Sie freuen sich über Beifall, von dem sie gar nicht genug bekommen können. Sie finden ständig Gründe, etwas Schwieriges nicht oder einfacher zu machen. Sie suchen körperlichen Kontakt und Anerkennung. Sie sind also - was das betrifft - nicht anders als andere. Trotzdem hat es lange gedauert, bis wir weg von der Spielschiene des Auswendiglernens hin zur freien Interpretation gekommen sind.

Das Interview führte Ralf Arnold Havertz.

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