Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Müdigkeit bei Wählern und Wahlkämpfern
Wenn Wahlen etwas verändern würden...

Walter Momper konnte einem schon fast leid tun. So hatte sich der SPD-Spitzenkandidat seine Wahlkampf-Radtour durch SO 36 wohl nicht vorgestellt: Der Fahrradhelm passte nicht richtig und sah ziemlich lächerlich aus, das Megafon versagte seinen Dienst, der Schweiß rann in der September-Sonne in Strömen von "Berlins schönster Festplatte" und zu allem Übel wurde er von den Kreuzbergern auch noch weitgehend ignoriert. Und das, obwohl er sich zur Verstärkung einen wahrhaftigen Minister eingeladen hatte: Franz Müntefering. Senator Strieder und Kreuzbergs Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer machten den Sozi-Tross komplett, der im Oma-Tempo durch den Wrangelkiez radelte.

In der Cuvrystraße durften sich die wenigen Anwohner, die sich dazugesellten, über den Baulärm vom Cuvrycenter beschweren, Müntefering erwähnte sein Programm "Soziale Stadt", Strieder sprach vom Quartiersmanagement und Momper stand dabei und nickte immer nur müde. Man hatte den Eindruck, er wolle wenigstens noch mit einem Mitleidsbonus Stimmen holen.

In den Wahlumfragen bricht die SPD einen Minusrekord nach dem anderen. Es ist nicht einmal mehr sicher, ob die Sozialdemokraten zweitstärkste Kraft bleiben. Genausowenig ist sicher, ob mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten überhaupt wählen geht. Kein Wunder: Die Aussichten, dass sich an den Mehrheitsverhältnissen etwas Wesentliches ändert, sind gleich Null. Da kann man sich den Urnengang gleich sparen.

Seit acht Jahren wird Berlin von einer CDU/SPD-Koalition regiert, die die Verantwortung für alles, was in dieser Zeit in Berlin schief lief, zu tragen hat. Die CDU sieht in dieser "Großen Koalition" eine Erfolgsgeschichte: Sie habe sich als "handlungs- und durchsetzungsfähig erwiesen", meint Regierungschef Eberhard Diepgen. Durchgesetzt haben sich in der Tat fast immer die CDU-Positionen. Für die unpopuläre Sparpolitik wurde hingegen allein die SPD mit ihrer Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing verantwortlich gemacht. Die Sozialdemokraten hätten schon längst die Notbremse ziehen müssen. Im Laufe der Jahre sind sie zu bloßen Mehrheitsbeschaffern für die CDU geworden. Mittlerweile hat die SPD überhaupt kein eigenes Profil mehr. Warum soll man nun die wählen, die all die Jahre den ganzen Laden mitverbockt haben?

Der Ausblick auf die nächste Legislaturperiode kann man kurz zusammenfassen: Alles geht weiter wie bisher. Die "große" Koalition wird noch etwas kleiner und noch etwas CDU-lastiger. Die parlamentarische Opposition bleibt weiterhin relativ machtlos. Stillstand.

Viel schlimmer wäre eine absolute CDU-Mehrheit auch nicht. Die Union könnte dann unangenehme Entscheidungen nicht mehr auf den kleineren Koalitionspartner abschieben und müsste allein die Verantwortung tragen.

Die andere Perspektive ist noch unrealistischer: Wenn sich die SPD nicht von der PDS tolerieren lassen will, sollte man ihr anbieten, ihrerseits eine PDS/Grünen-Regierung zu tolerieren, sofern es das Wahlergebnis zulässt.

Im Wahllokal erwartet die Wähler aber noch ein zweiter Wahlzettel. Bei den gleichzeitg stattfindenden Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) dürfte es viel spannender werden. Die Ost- und West-, Innen- und Außenbezirke sind extrem unterschiedlich strukturiert und lassen daher die politische Landschaft Berlins als ein buntes Mosaik erscheinen. In den künftigen Großbezirken, die zum Teil aus Ost und West, zum Teil aus Innenstadt und Peripherie zusammengewürfelt wurden, werden die einzelnen Wahlergebnisse zusammengezählt. Wenn sich die BVVen der Fusionsbezirke im Herbst 2000 zu einer BVV vereinigen und ein neues Bezirksamt wählen, können sich wieder ganz neue Mehrheiten ergeben. Erstmals gibt es bei den BVV-Wahlen auch keine Fünfprozenthürde mehr. Dadurch könnte das gewohnte Parteienspektrum aufgeweitet und durcheinandergewirbelt werden. Alle Prognosen auf Bezirksebene sind also voller Unwägbarkeiten. Leider wurden den neuen Großbezirken nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, weitreichendere Kompetenzen zugesprochen, so dass der Senat in vielen Fällen Bezirkspolitik, die ihm nicht behagt, wieder rückgängig machen kann.

Bei allen Klagen über die voraussichtlich niedrige Wahlbeteiligung wird oft vergessen, dass Nichtwählen auch eine Aussage ist. Man müsste eher von "Wahlverweigerung" sprechen. Ohnehin ist der Senat nur von einer Bevölkerungsminderheit legitimiert. Legt man die gesamte Berliner Bevölkerung zugrunde - inklusive aller, die nicht wählen dürfen, weil sie zu jung oder Ausländer sind -, so schmilzt eine offizielle Wahlbeteiligung von 60 auf 45 Prozent zusammen. Die freiwilligen und unfreiwilligen Nichtwähler haben eine satte absolute Mehrheit von 55 Prozent. Nur 18 Prozent der Berliner Bevölkerung wählen CDU, 10 Prozent SPD, 7 Prozent PDS und 6 Prozent Bündnisgrüne. Immerhin: alle über der Fünfprozenthürde.
js

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