Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Keine Bilder

Manchmal gibt es Ereignisse, die man bereits Momente vor ihrem eigentlichen Eintreten vorhersieht. Als ich das letzte Mal die Treppen zur Wohnung von Helene Jassmann hinaufstieg, wußte ich, daß sie nicht mehr da sein würde. Vielleicht war es auch ihr Alter oder aber mein schlechtes Gewissen, weil ich mich seit Wochen nicht hatte blicken lassen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich mit meinen Maiglöckchen auf ihrem Treppenabsatz stand, mein Gesicht an das Oberlicht ihrer Tür drückte und auf die leeren Wände starrte, auf die Schatten von Bildern, die es nicht mehr gab.

Als wir uns wenige Monate zuvor kennenlernten vor einem Supermarkt am Helmholtzplatz, hatte sie bereits Mühe, die Einkäufe allein nach Hause zu tragen. Sie war über siebzig und lebte allein in dieser großen Wohnung in der Senefelderstraße. In fast fünfzig Jahren war die Wohnung zu einem Museum unseres Jahrhunderts geworden. Im Lauf der Jahre zogen vier Männer bei ihr ein. Einer war Jäger, daher die ganzen Geweihe. Helene mochte die kleinen verkrüppelten am liebsten. Die hingen im Eßzimmer, wo sich für eine kurze Zeit unser kleines Ritual wiederholte.

Helene schickte mich in die Küche, um Schokolade und Wein aus dem Kühlschrank zu holen. Nein, kein Widerspruch, natürlich möge ich Schokolade. Helene holte Gläser aus der Vitrine und polierte sie noch einmal, was nicht nötig gewesen wäre, in ihren fünf Zimmern gab es keinen Staub. Wir stießen an, und Helene begann zu erzählen. Die Geschichten wiederholten sich und waren doch nie gleich.

Helene Jassmann wurde auf einem Gutshof in Pommern geboren. Damals hieß sie noch Tucholsky. Sobald sie ein Messer halten konnte, mußte sie Kartoffeln schälen. In ihrer Erinnerung scheint ihre Kindheit nur aus Kartoffelnschälen zu bestehen.

Kurz vor Kriegsende machte sie sich auf den Weg nach Berlin. Damals ein weiter Weg. Sie wurde mehrfach von Soldaten mißbraucht. Aber das kannte sie ja schon, sagte sie, vom Gutshof.

Diese Geschichte hatte sie öfter erzählt. Immer hat mich ihre Sachlichkeit überrascht. Und ich versuchte zu begreifen, daß diese Geschichten schon 50 Jahre zurücklagen.

Fast genauso lange wohnte sie in dieser Wohnung, einer Mietskaserne in der Senefelderstraße am Prenzlauer Berg. Ihre Fotoalben erzählen, wie sich unser Viertel über die Jahre verändert hat. Auf den ganz frühen Bildern erkannte ich kaum etwas und ließ mir erklären: "Das ist dein Haus", sagte Helene etwa, "da war doch damals noch der alte Kopischke..."

Irgendwann am Nachmittag kam immer der Zivi und brachte das Essen. Ich öffnete ihm die Tür, und wir hörten Helene aus dem Eßzimmer rufen: "Stellen sie das Essen ruhig in die Küche." Dann hörte ich sie lachen: "Ich habe heute Besuch!" Der Zivi war schon auf der Treppe.

Helene aß nie, wenn ich dabei war, weil das mit dem Kauen so lange dauert. Auch keine Schokolade. Aber sie hatte sichtliches Vergnügen, mir zuzusehen. Und weil ich ja nicht ihre ganze Schokolade aufessen konnte, brachte ich dann selber welche mit, die ich dann das übernächste Mal wieder aufaß.

Außer mir kam nur ihre Tochter einmal die Woche vorbei. Und doch war ihr Haar immer sorgsam gerichtet. Sie trug Schmuck, ein wenig Lidstrich. Sie lächelte immerzu, aber man sah die Anstrengung, wenn sie die langen Wege in der Wohnung zurücklegte. Wenn ich klingelte, mußte ich zwei Minuten warten, bis sie die Tür öffnete, und dann sagte sie: "Gehen Sie schon mal vor." Der Zivi ist am Anfang ein paar Mal wieder abgezogen, weil er dachte, sie sei nicht da. Aber aus der Wohnung wollte sie nicht raus. Ihrer Tochter wollte sie nicht zur Last fallen, und ein Pflegeheim kam gar nicht in Frage. "In einem Pflegeheim kann ich nicht gepflegt alt werden", erzählte sie mir einmal. "man stirbt so, wie man zuletzt gelebt hat."

Im Pflegeheim plärren Radios über die Gänge, überall laufen Fernseher. Helene hatte keinen Fernseher. Das dominierende Geräusch in der Wohnung ist das ewige Ticken der alten Standuhr. Jede Viertelstunde begann sie zu rasseln und zu rumpeln, und dann gongte sie durch die stille Wohnung. Und mit jedem Gong erschien ein anderes Bild aus den vergangenen Jahrzehnten. Frau Jassmann saß in ihrer Wohnung voller Erinnerungen wie die Letzte in einer verlassenen Stadt.

In den Nachkriegsjahren arbeitete sie in Berlin als Krankenschwester und setzte die erste Insulinspritze in Deutschland. Sie sparte Geld, um sich als eine der ersten Frauen in den fünfziger Jahren liften zu lassen. "Bei Professor Urban", strahlte sie, legte ihre Hände auf den nun flachen Busen und streckte stolz den Rücken. Wenn wir die halbe Flasche Wein getrunken hatten, begann Helene, Gedichte zu rezitieren. Sie hatte alle selbst geschrieben zu Namenstagen, Hochzeiten und anderen Anlässen. Vor jedem Gedicht sammelte sie sich kurz, räusperte sich und rezitierte dann mit der Betonung und dem erhobenen Zeigefinger einer Unterstufenlehrerin. Manchmal holte sie auch ihre Mundharmonika aus einer Kommodenschublade oder bot mir das Du an. Ich nahm gern an - für diesen besonderen Augenblick. Ich wußte ja, daß sie sich in der folgenden Woche kaum an meinen Namen erinnerte. Trotzdem schreibe ich hier von Helene und nicht von Frau Jassmann und denke, das geht in Ordnung.
André Caspary

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  Ausgabe 09 - 1999