Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wiederaneignung des öffentlichen Raumes

Der Filmemacher Stefan Hayn stellt Aquarelle aus

Die Lichtenberger Victoriastadt, eingezwängt zwischen S-Bahngleisen, ist ein peripherer Ort. Berlins (vorerst) letztes besetztes Haus in der Pfarrstraße ist schon lange geräumt, viele Ladenlokale stehen leer. Wo aber das Leben gewichen ist, darf sich die Kultur ausbreiten, und so ermöglichte es der Bezirk Lichtenberg Anfang September einigen Künstlern, die unvermietbaren Immobilien für ein paar Tage zu bespielen. Im Ladenlokal Pfarrstraße 136 zeigte der Filmemacher Stefan Hayn eine Auswahl aus einer Serie von mittlerweile 140 Aquarellen, an der er seit einem Jahr auf der Straße und auf U-Bahnhöfen arbeitet. Diese Bilder sind Material für ein geplantes Filmprojekt, stehen aber hier erst einmal für sich, in Beziehung gesetzt zu Roswitha Schaabs aus dem Leben gegriffenen Figuren.

Stefan Hayns Motive sind die Werbeplakate, mit denen die Industrie den städtischen Raum okkupiert. An diese "non violent aggression", wie Günther Anders es einmal ausdrückte, haben wir uns ja mittlerweile so weit gewöhnt, daß wir sie kaum noch wahrnehmen. Ihre Wirkung schmälert das nicht. "Wie von Hand gemacht" heißt es etwas bieder auf dem Plakat, das für die Tiefkühlpizza wirbt. Um zu wissen, "was Sache ist", soll man sich den Schlagermüll eines Privatsenders anhören. Die Berliner Bank meint, es sei an der Zeit, "eingefahrene Gleise zu verlassen". Wohl wahr. Selbst das Bilderverbot hat Eingang gefunden in die heutige Plakatwerbung: "Danken Sie uns, daß wir Ihnen dieses Bild ersparen. Mit Geld." Gemeint ist das Bild einer 4-jährigen Kambodschanerin, der gerade ein Bein abgenommen wurde. Der vorläufige Höhepunkt des Zynismus.

Bildende Kunst heute muß sich der vom Design der Werbeagenturen geprägten Visualität des öffentlichen Raums entgegenstellen. Stefan Hayn hat das mit seinen Aquarellen in exemplarischer Weise unternommen. Ihm geht es nicht nur darum, malend nachzuvollziehen, was diese Plakate als Bilder ausmacht, er stellt auch die Frage nach dem Kontext: Was richtet ein bestimmtes Plakat vor den Kacheln eines U-Bahnhofs an, in welche Beziehung tritt es zu einer Baumgruppe, vor der es angebracht wurde? Das antiquierte Medium erweist sich dabei nicht nur als geeignetes Mittel der Analyse, es bietet auch die Möglichkeit einer Anverwandlung, ja Wiederaneignung des enteigneten öffentlichen Raums durch den individuellen malerischen Duktus. Deshalb sind die Aquarelle von Stefan Hayn auch keine Übung in Photorealismus. In ihnen teilt sich die Entstehungssituation auf der Straße oder am Bahnsteig durchaus mit: Die Farben stammen oft mehr oder weniger direkt aus dem Malkasten, so manches Bild bleibt Fragment.

Die Versuchsanordnung dieser Aquarellserie bringt allerlei Ambivalenzen und Unwägbarkeiten mit sich, denen Stefan Hayn nicht ausweicht: Mal ist ein Plakat eine dankbare Vorlage für die Umsetzung mit dem Pinsel, mal sind die Plakatmotive als solche interessant oder es ist der Ort, an dem ein Plakat hängt. Manchmal wirken die Produkte der Werbeindustrie, diese "non violent aggression", in seinen Aquarellen wie versöhnt mit der Umgebung, in die sie so brutal geknallt wurden.
Florian Neuner

Das Filmkunsthaus Babylon veranstaltet am19. und 20. Oktober eine kleine Werkschau, in der die meisten Filme von Stefan Hayn zu sehen sein werden, u. a. Pissen, Fontvella´s Box, Dreizehn Regeln oder Die Schwierigkeit sich auszudrücken und Ein Film über den Arbeiter, an den das Filmprojekt, in dessen Vorfeld seine Aquarelle entstehen, anknüpfen soll.

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