Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Dumme Pute an Pelzkragenschnösel

Stürmer und Dränger an Siebziger-Lampe und überdreht im Theater unterm Dach

Zuerst sieht man nichts. Dann kommt eine Gestalt auf die Bühne und schnauft. Nur die Grubenlampe auf dem Kopf zeigt ihren Standort an. Dann kommt noch eine Gestalt und noch eine. Knäckebrot wird ausgepackt, eine Dose zischt beim Aufmachen. "Was ist das für ein steiler Gipfel?"

Zwei Wanderer in der Nacht haben sich auf einem Berg getroffen und sich viel zu erzählen, obwohl sie sich gerade erst kennengelernt haben. Sie gedenken des großen Wanderers Shakespeare. Für den einen ist der Reisezweck der Kopf. Er will gut sein. Die Rede ist von Nachahmung als der höchsten Form der Poesie. Ja, das Ding aus dem Leistungskurs oder Seminar.

Gegeben wird: "Genie oder Franz", eine szenische Montage aus Texten zweier Größen: Lenz und Schiller. J.M.R.Lenz, Büchner-Fragment-Lenz, die tragische, früh gestorbene Figur, und Schiller. Beide Ohne-den-kommt-man-wohl-nie-ganz-aus-Goethe- Freunde. Verarbeitet sind Motive aus einem Drama von Lenz und die Franz-Mohr- Geschichte aus den "Räubern". Die anfängliche Reflexion über die Darstellung mündet ein in die Szenerie einer zuvor erzählten Geschichte: Wir befinden uns in einem schwarzkahlen Raum, der Studierstube. Es geht um Bruderzwist und die Geschichte vom verlorenen Sohn. Ein verträumter älterer und ein pflichtbewußter, jüngerer Bruder (Dirk Wäger), der immer macht, was Papa (Moc) sagt. Der sich immer einschleimen will bei allen und glaubt, bisher zu kurz gekommen zu sein und auch so abgöttisch geliebt werden will, wie das schwärmerische Sorgenkind. Der Träumer David- (Axel Strothmann) interessiert sich nicht für den vom Vater geforderten Paukstoff und hält nichts vom Streber, viel aber von der kaugummikauenden Sängerin Brighella (Rosa Enskat), die vom Vater ausgehalten wird. Diese stört mit quietschrotem Jäckchen und zappeligen, lasziv sein sollenden Posen die Paukerei. Dann gibt es noch einen Musiker im schicken Fellkragen, der einen "Anschlag hat, da wird man ganz verrückt", sagt Brighella zu David. Und weil sie eine äußerliche, blöde Pute ist, vergafft sie sich naturgemäß in den Pelzkragenschnösel, der sich später als Pantoffelheld und Erbschleicher entpuppen muß.

David geht also leer aus. Bei einem Fest wird die Verlobung der beiden Musikanten bekanntgegeben, die der intigante Bruder eingefädelt hat, um David zu ärgern. Und das Publikum hat einmal mehr die Gelegenheit, Rosa Enskat singen zu hören, die alte Schnulze "All Of Me". Im Spot verrenkt sie sich, als wollte sie Sophie Rois karikieren, die Marilyn Monroe karikiert. Nur singen kann sie besser als beide zusammen, und die Maniriertheit ist nicht so aufgesetzt, wie bei der Volksbühnendame. Auch die naive, berechnende Dummheit der Trällerliese nimmt man ihr ab. Wenn sie derart inszeniert werden, können Stürmer und Dränger lustig sein, ist dankenswerterweise festzustellen - Regie: Georg Scharegg. Dieser gibt auch sehr schön den Musikerschnösel Schlankard. Gutes Aussehen, aber sonst nix auf dem Kasten, bis auf den "Anschlag" und den Pelzkragen, läßt sich ja auch vom Alten freihalten.

Im Programm sind Doppelrollen angegeben, soll heißen, eine Person spielt zwei Figuren, die man aber nicht voneinander trennen kann. Es ist auch nicht mehr nachvollziehbar, welcher Text woraus entnommen wurde. Das ist gut so. Sonst könnte man der Geschichte vor lauter Suche nach Bildungssplittern nicht folgen. Irgendwann heißt jedoch Just, der jüngere Bruder, dann Franz (ja, die Kanaille). Und die Szene, kehrt zurück an einen braungelben Siebziger-Wohnzimmer-Herd, nachdem Schlachtgetümmel mit einem Metronom als Bombe gespielt wurde und eine feine Musterungsszene: Alter? - Ja. Geschlecht? - Auch. David ging nämlich enttäuscht zum Militär, kehrt aber zurück zum siechen Vater , der den verlorenen Sohn noch einmal sehen darf, bevor er von Franz, der Kanaille...

Drama Ende. Klingt ein wenig trivial. Aber obwohl die Geschichte bekannt ist, hat die Produktion von Theatervorrat und dem Theater unterm Dach gezeigt, daß man so mit Klassikern umgehen kann und dazu keine riesige Castorfbühne braucht. Hier paßt auch das miefige Siebziger-Interieur zur genauso miefigen Adligengesellschaft. Gespielt wird wohltuend unprätentiös und ausgefeilt. Die Gesten und Blicke sitzen. Im kleinen Saal kann geflüstert werden ohne Mikrofon. So schafft man Intensität. Und das ist selten heutzutage.
Ingrid Beerbaum

Theater unterm Dach, Danziger Straße 101, 23./24. September und 08/09./10/23./24 Oktober, jeweils 20 Uhr

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  Ausgabe 09 - 1999