Ausgabe 08 - 1999berliner stadtzeitung
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Ruhe ist erste Bürgerpflicht

Die Polizei in Friedrichshain bekämpft angeblichen Lärm aus ex-besetzten Häusern mit rabiaten Mitteln

Ist es Realsatire, wenn ein Polizeitrupp das Dach eines ex-besetzten Hauses stürmt und von dort Baumaterial, Teile von Schornsteinen, einen Sonnenschirm und eine Teekanne herunterschleppt - unter dem Vorwand, "Wurfgeschosse" zu beschlagnahmen - aber zugleich ein Beschlagnahmeprotokoll zu verweigern? Oder ist es einfach Rechtsbruch, den hier die Staatsgewalt begeht, um die linke Szene zu irritieren?

Die Vorgeschichte dieses Ereignisses in Friedrichshain, das sich am Nachmittag des 11. August 1999 tatsächlich ereignet, sind Polizeieinsätze, die sich im Umfeld der ex-besetzten Häuser im Samariterkiez seit etwa einem Monat häufen. Zum Beispiel 20. Juli: Polizeieinsatz wegen Ruhestörung, Personalien sämtlicher Leute, die sich im Bereich Rigaer Straße 83/84 und in den umliegenden Häusern aufhalten, werden aufgenommen. Selbst einem Abwesenden flattert ein Bußgeldbescheid wegen Ruhestörung ins Haus. Oder 22. Juli: Polizeieinsätze in der Liebig- und der Rigaer Straße. Tatverdacht ist unter anderem ein illegaler Mauerdurchbruch, der als Fluchtweg genutzt werden könnte. Oder 28. Juli: Polizeieinsatz wieder in der Rigaer Straße wegen angeblicher Ruhestörung. Lärm gab es an diesem Abend definitiv nicht. Der Tatverdacht der Ruhestörung war jedoch Grund genug zum Einschlagen eines Treppenhausfensters und Betreten von diversen Privatwohnungen durch Polizeibeamte - wie bei allen anderen Aktionen in den letzten Wochen ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl.

Woher kommt der Lärm?

Juristisch ist dieses spontane Betreten von Wohnungen bei "Gefahr im Verzug", also auch bei Lärm, möglich. Das Bezirksamt hat der Polizei mittels eines "Amtshilfegesuches" aufgrund wiederholter Ruhestörungen in der Rigaer Straße einen Freibrief zum Stürmen der ex-besetzten Häuser gegeben. Nachzuweisen, dass im Vorfeld der Polizeieinsätze kein Lärm gemacht wurde, ist schwierig. Dass der Lärm, über den sich Anwohner beschweren, nicht nur aus den ex-besetzten Häusern kommt, sondern zu einem großen Teil auch aus der benachbarten Cocktail-Bar und von den Autos auf der naheliegenden Proskauer Straße, ist keine Frage, den politisch Verantwortlichen jedoch egal.

Zu mehr als einem Dutzend massiver Polizeieinsätze innerhalb von vier Wochen kommen provokativ patrouillierende Mannschaftswagen, die zeitweise im Minutentakt die Rigaer Straße auf- und abfahren und damit auch "ganz normalen" Bürgern ein Gefühl totalitärer staatlicher Kontrolle vermitteln. Einen vorläufigen Höhepunkt stellt die Nacht vom 3. auf den 4. August dar. Wegen Ruhestörung hält sich die 23. Einsatzhundertschaft der Polizei an der Ecke Rigaer/Proskauer Straße bereit, einige Beamten warten bereits in Schutzanzügen und Helmen auf "ihren" Moment. Währenddessen wird eine ausgeschaltete Stereoanlage in einem benachbarten Haus beschlagnahmt, auf sämtlichen Stockwerken des durchsuchten Hauses kann allerdings keine Lärmbelästigung festgestellt werden. Seltsamerweise sind bereits jetzt Fernsehen und Presse informiert und vor Ort.

"Die Polizei schlägt wild um sich"

Es ist von keiner Seite zu Gewaltanwendung gekommen, bis gegen 0.50 Uhr eine Gruppe Polizeibeamte auf die Haustür eines benachbarten ex-besetzten Hauses zurennt. Ein Mieter weist sich den heranstürmenden Beamten gegenüber mehrfach als Vertreter der Eigentümergenossenschaft aus. Eine Antwort auf seine Frage nach dem Grund des Polizeieinsatzes bekommt er nicht, statt dessen wird er weggezogen, geschlagen, seine Spiegelreflexkamera wird ihm entrissen. Eine Mieterin, die neben ihm steht, wird durch eine Ohrfeige verletzt und weggezogen. Unter dem Protest der Umstehenden treten die Polizisten die Haustür ein und schlagen panikartig auf umstehende Personen ein. Einer Frau wird so heftig ins Gesicht geschlagen, dass sie blutend zu Boden sinkt. Aus Wut über die plötzliche massive Gewaltanwendung durch die Polizei kommt es zu Flaschen- und Steinwürfen, einige Personen werden festgenommen. Etwas später eskaliert die Situation nochmals. Nach dem brutalen Zusammenschlagen einiger Personen auf der Rigaer Straße stürmt die Polizei eine Cocktailbar und zerrt nicht nur die an den Auseinandersetzungen Beteiligten brutal auf die Straße, sondern auch Gäste von den Stühlen. Die Polizisten schlagen nach Augenzeugenberichten wild um sich. Im Zuge der anschließenden Räumung der Rigaer Straße kommt es erneut zu massiven Stein- und Flaschenwürfen. Beteiligte und Unbeteiligte werden brutal zusammengeschlagen. Ausgeschlagene Zähne, Nasenbruch, Platzwunden, Gehirnerschütterungen und andere Kopfverletzungen gehen auf das Konto dieses Polizeieinsatzes.

Was ist der eigentliche Grund?

In der Dramatik der Ereignisse wird dabei eines ganz vergessen: die Ruhestörung. Zwischendurch steigen zwar einige Polizeibeamte das Treppenhaus eines Hinterhauses hinauf, doch auf den Hinweis einer Bewohnerin hin, dass von hieraus aufgrund der räumlichen Ausrichtung keine Ruhestörung im Straßenbereich ausgehen könnten, verlassen sie das Haus. Bis zu einem Punkkonzert, das in der Nähe stattfindet, dringen die Beamten im Eifer des Gefechts gar nicht erst vor. Hier hätte die Polizei tatsächlich eine Ruhestörung ausmachen können, doch offensichtlich ging es gar nicht darum. Im "Wachtmeister", dem "BULLEtin aussA Rigaer" wird ausführlich über die Ereignisse berichtet. Neben Gedächtnisprotokollen, der Pressemitteilung der Polizei, Verhaltensregeln für zukünftige Polizeieinsätze und den verzerrten Pressseberichten aus B.Z. & Co. ist in einer reißenden Zusammenfassung der Ereignisse zu lesen: "Alles in Allem muss man sagen, dass es gut ist, dass es mal geknallt hat, denn bei den Bullenprovos der letzten Zeit war es wirklich nötig, dass mal was zurückkommt." Weniger radikal, aber genauso gemeint, drücken das auch andere Menschen im Kiez aus. Unbeantwortet bleibt die Frage nach den Ursachen, die sicher nur zum Teil bei einer tatsächlichen Lärmbelästigung durch die Bewohner der ex-besetzten Häuser zu suchen sind.
Guido Rörick
mit Betroffenen der Polizeieinsätze

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