Ausgabe 08 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Weihnachtsbäume, verkehrtherum

Hatte Sergej Lust, holte er seine Freunde zu sich in die Wohnung. Kaufte eine oder zwei Flaschen Wodka, seine Kameraden brachten ihre Kumpels mit und dazu noch einen Kasten Bier. Da saßen sie dann und tranken solange, bis die Gedanken frei und die Frauen schön waren. Und wenn man schließlich spät abends dachte, nun käme nichts mehr, brachte Sergej ein Backblech voll mit Hähnchenkeulen und grinste speckig. Ob sein Name wirklich Sergej war, weiß ich nicht. Vielleicht hieß er auch Sascha oder Gennadij. Das "R" rollte er russisch und machte sich nie Sorgen darum, was kommt. Auch ich balancierte einmal auf meinem Gepäckträger einen Kasten Bier in Sergejs Wohnung. Da freuten sich alle.

Sergejs Wohnung lag dem Wasserturm direkt gegenüber, parterre. Zehn Meter weiter links davon die Kommandantur, eine Kneipe, in der man Lenin-Büsten bewundert und alte Rubelmünzen, die heute nichts mehr wert sind. Sergej sah ich dort nie. Wahrscheinlich würde man ihn hinauswerfen, weil er ungehobelt ist und sein Bier nur ungern bezahlt.

Hatte Sergej Lust, tat er etwas Lustiges. Im Herbst füllte er seine Wohnung kniehoch mit Laub aus Sammelbeuteln der Stadtreinigung. Alle Freunde kamen, freuten sich und tranken etwas. Durch Sergejs Küche zogen sich wilde, aus Silberpapier geknetete Schlangen. Im Zimmer stapelten sich Waschtrommeln, dazwischen ein Verstärker, ein Schlagzeug. Möbel nur vom Sperrmüll. Zu Neujahr, als man Tannenbäume auf die Straße warf, sammelte Sergej sie ein und hängte sie verkehrtherum an seine Zimmerdecke. Schau mal, der Sergej studiert Kunst, sagten seine Kumpels. Ist doch klasse, was der so macht. Manchmal verstand man nicht, was sie sagten. Sie redeten russisch, spanisch und englisch. Oft auch alles durcheinander.

Ich verstehe Menschen, die Sergej und seine Freunde für unangenehm halten. Ihre Kleidung war löchrig und dreckig. Im Sommer saßen sie mit ihrer Gitarre auf dem Helmholtzplatz, tranken Bier aus Dosen und pfiffen den Mädchen nach. Sie fragten Vorbeigehende nach Zigaretten oder Kleingeld und ließen ihre Zahnlücken schwarz blitzen. Sergej und seine Freunde freuten sich bei Sonnenschein und tranken schweigend, wenn Regen kam und es dunkel wurde.

Vor Sergejs Wohnung steht ein Gerüst. Wo Silberpapierschlangen hingen, stapelt sich Isolierwolle. Inmitten des Wohnzimmers ein Haufen herausgebrochener Türrahmen und halber Fensterflügel. Sergejs Freunde sehe ich noch ab und an auf dem Helmholtzplatz. Bei Sonnenschein mit Gitarre und Zahnlücken. Wahrscheinlich trinkt Sergej mit ihnen jetzt woanders. Und gleichzeitig erzählt man sich an den Cafétischen neben seiner Wohnung, wie cool er doch war.
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  Ausgabe 08 - 1999