Ausgabe 08 - 1999berliner stadtzeitung
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"Kurze, flotte Leben"

Tanja DückersŤ junge Menschen ohne Gedächtnis

"Müssen sie denn nie einmal Dinge tun, wie den Müll runtertragen oder Schuhcreme kaufen?" fragt sich der verklemmte Herr Lämmle, wenn er wieder einmal das bunte Pärchen aus der Nachbarschaft beobachtet. Wie zwei schillernde Paradiesvögel schweben sie in Siebziger-Jahre-Mode durch die Neuköllner Tristesse, unaufhörlich mit Parties, Sex und Klamottenkauf beschäftigt. Dabei werden sie von ihren etwas farbloseren Nachbarn mit Wohlwollen und etwas Neid beachtet. In der Neuköllner Thomasstraße treffen Berliner unterschiedlichster Couleur und Altersgruppen aufeinander, die von der Autorin in ein filigranes Netz verwoben werden, welches die Berliner Stadteile und ihre Bewohner miteinander verbindet.

In diesem Berliner Mikrokosmos werden die fünfzehnjährige Lara und ihre neunzehnjährige Kusine Ada näher beleuchtet. Lara muß ein eher uncooles Dasein in Neukölln fristen, denn ihre Eltern sind klischeehafte 68er, die selbstverständlich mit dem Vornamen angeredet werden wollen und schrecklich verständnisvoll sind, wenn sie nicht gerade Politreportagen sehen oder dem Journalismus nachgehen. Ihre ältere Kusine Ada darf sich bereits im Prenzlauer Berg ausleben. Kein Wunder, daß die gelangweilte Lara es vorzieht, mit Freunden auf dem nahegelegenen Friedhof zu kiffen. Dort freundet sie sich mit einer älteren Bewohnerin der Thomasstraße, Rosemarie Minzlin, an, die auf ein erfülltes Leben und eine glückliche Ehe zurückblickt und am Grab ihres Gatten zärtliche Zwiesprache mit dem Verstorbenen hält.

Der Umzug der Studentin Katharina aus Neukölln in den Prenzlauer Berg lenkt die Perspektive auf den Ostbezirk, der im Gegensatz zum verödeten Neukölln abgefahrene Events und ein schrilles Publikum verheißt. Dort wird sie auf Ada und Lara treffen, die ihre ältere Kusine dort besuchen darf.

Frühreife Jugendliche, die es mit diesem/dieser oder jenem/jener treiben, taumeln durch die Ruinen- und Partylandschaft Prenzlauer Berg - ein bizarres Paralleluniversum, das fernab von einer Berliner Wirklichkeit zu existieren scheint. Dominas in roten Lackplateau-Stiefeln, Alkoholiker, Schulkinder, Tunten in Krankenschwesteroutfits schweben auf der Kastanienallee in einer karnevalesken Prozession vorbei, denn schließlich ist im Szenebezirk jeder Lebensentwurf realisierbar. Politik kommt im Leben der Figuren fast nicht vor, die Berliner Mauer ist nur irgendeine Mauer.

Die Bemerkung von Laras Mutter, daß ihre Kinder "Erlebnisvielfräße" seien, beschreibt die Lebenseinstellung der im Roman dargestellten jungen Nach-Wende-Generation vielleicht am besten. Materielle Werte treten in den Hintergrund, was von Dückers´ Protagonisten als "burgern" und "trashen" bezeichnet wird, während es den Jugendlichen primär darum geht, viele abgedrehte Erfahrungen in möglichst kurzer Zeit zu sammeln, d. h. die verschieden Sorten und Spielarten von Drogen, Sex und Parties.

Adas Bemerkung "...ich schlafe auch ab und zu mit Frauen, nur mach ich nicht so´n Brimborium daraus, daß es Frauen sind, ich find´s nicht so wichtig." verdeutlicht die Ziellosigkeit der Figuren, die einer narzistischen Selbstverwirklichung frönen, was auf Dauer einen schalen Geschmack hinterläßt. Ständig wechseln die sexuellen Orientierungen, die Liebhaber, Party Locations und die Trödelmarkt- bzw. H&M Outfits.

Jedoch schimmert bei allem Eventhunting der Protagonisten so etwas wie eine Sehnsucht nach Liebe und Authentizität durch. Einzig selbst zugefügter Schmerz schafft ein wirkliches Gefühl, stellt eine Grenze her - wenn auch nur erfahrbar als Verletzung des eigenen Körpers. So schneidet sich Ada, als eine lesbische Nachbarin ihr voller Glück ihr Baby zeigt, aus Neid und Unverständnis eine Brustwarze ab. Aber was soll´s, immerhin kann sie noch ein Techtelmechtel mit einem Krankenpfleger anfangen, und "im Zweifelsfall kann man ja wieder eine neue ranmachen". Ihre entstellte Brust wird von ihren Sexgespielen, Nils und Moritz, gebührend mit einer Party gefeiert, denn letztlich steigert Androgynität den Attraktivitätswert, wie Ada befriedigt feststellt.

Ein junger Ostberliner ist eine der wenigen Romanfiguren, die dem Faszinosum Prenzlauer Berg kaum etwas abgewinnen können, da er als Ostdeutscher mit baumlosen Hinterhöfen groß geworden ist. Benno (Geburtsjahr 1979) treibt die Selbstfindung und Identitätssuche. Ist er doch bedrückt von der Tatsache, daß sein mißgebildeter Zwillingsbruder in einem mit Formalin gefüllten Glasbehälter in der Pathologischen Abteilung der Charité konserviert steht. In einem heroischen Akt der Selbstüberwindung befreit er seinen mißgestalten Zwillingsbruder Leo an ihrer beider Geburtstag, um mit ihm im Tiergarten unter einem Baum zu sitzen. Erlöst sitzt der groteske Embryo dann mit Kindersachen bekleidet auf einem Ast im Tiergarten mit Blick auf die Victoriastatue der Siegessäule.

Die Studentin Katharina, die vorgibt, einen distanzierteren Blick auf ihre Nachbarn und das Partyvolk zu haben, unterscheidet sich auch nicht sehr von ihrer Umgebung, wenn sie am Ende des Buches ganz bildungsbürgerlich mit Moritz nach Italien fahren möchte: "...wir wollen in unserem kurzen, flotten Leben noch einmal romantische Liebe probieren." Romantische Liebe scheint auch nur einer der vielen kuriosen Lebensentwürfe zu sein, die beliebig verfügbar sind.

"Ich betrachte mich als Dokumentatorin" sagt Tanja Dückers. Kommentarlos schildert sie den Szenealltag und gewährt präzise Einblicke in das Innenleben ihrer Figuren, die trotz des süßen Lebens von Krisen heimgesucht werden und sich nach echten Gefühlen sehnen. Innige Zuneigung und stabile Beziehungen scheinen nur retrospektiv im Leben der älteren Neuköllnerin oder dem von Ada mißtrauisch beäugten Lesbenpaar zu herrschen.

Der Prenzlauer Berg wirkt wie ein Abenteuerspielplatz, auf dem sich die zugezogenen Hipster grenzenlos austoben können, wobei es der Autorin gelingt, das buntschillernde Treiben und das dazugehörige Lebensgefühl bestechend genau einzufangen. Jedoch untergräbt das häufige Einstreuen von psychologisch unmotiviert wirkenden Sexszenen in beinahe jedem Kapitel die Glaubwürdigkeit der Figuren und wirkt bisweilen unfreiwillig komisch. Sexuelle Obsessionen und morbides Verhalten lassen manche Figuren wie aus einem Panoptikum entsprungen erscheinen. Wäre nicht der distanzierte Blick der Autorin, gerieten die Figuren in Gefahr, ins Klischeehafte abzugleiten.
Mareike Meyer

Tanja Dückers: Spielzone. Roman, Aufbau Verlag Berlin 1999; 208 Seiten. 34 DM

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