Ausgabe 08 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Das männliche Glied ist ein bemerkenswerter Körperteil

Thomas Jonigk und Belmen O erzählen vom beschädigten schwulen Leben

Thomas Jonigk, "Nachwuchsdramatiker des Jahres 1995", zählt zu jenen Theaterautoren um die 30, die dem deutschen Theater ein neues Biedermeier beschert haben: Die Dramen spielen sich im Wohnzimmer ab und wollen uns noch einmal zeigen, daß die bürgerliche Kleinfamilie schlimmste Deformationen produziert. Das dramaturgisch und sprachlich Altbackene wird dabei nur notdürftig verdeckt von einem Verbalradikalismus, einem geradezu manischen dirty talk. Nun hat Jonigk mit Jupiter sein Romandébut vorgelegt. Das Buch - warum wird heute eigentlich jeder Prosatext als Roman verkauft? - erzählt von Homosexualität und Gewalt, vom Selbsthaß des Protagonisten Martin ("Ich finde, ich bin abstoßend"), dem Mißbrauch durch seinen Vater und seiner Flucht in eine Beziehung als Vaterersatz. Das ist alles ziemlich platt zusammengerührt, das Mißbrauchsthema nur allzu modisch. Von der im Klappentext gerühmten "souveränen Handhabung literarischer Techniken" kann keine Rede sein. Am besten gerät Jonigk noch ein zynisch-distanzierter Staccato-Tonfall, so in den einleitenden Kapiteln, wenn der Erzähler in der Toilette einer Schwulenkneipe von zwei Türken so brutal durchgefickt wird, bis er aus dem Darm blutet. In der mißlichen Lage erscheint dann der Vaterersatz als deus ex machina. Alles andere, die Inszenierung etwa von Martins Persönlichkeitsspaltung in Dialogform, gerät Thomas Jonigk zur Katastrophe. Der Titel des Romans? "Ich war Jupiter", heißt es an einer Stelle, "Ich hatte Kraft." Mehr verbirgt sich dahinter nicht. Wo das Buch "politisch unkorrekt" und "provozierend" (Verlagswerbung) sein will, ist es am Ende doch nur bieder.

Nun, es möchte sein, daß es Menschen gibt, die heute noch chociert sind von Großstadtschwulen, deren Leben in einer unausgesetzten Jagd nach Sexabenteuern besteht. Der nackte Soldat von Belmen O, so ein Pseudonym, handelt von diesem Leben im Wien der siebziger und achtziger Jahre, in einem Land, in dem bis heute schwulenfeindliche Gesetze bestehen. Belmen O erzählt präzise unaufgeregt und wohltuend ohne Raffinement vom beschädigten schwulen Leben zwischen Klappe, Rathauspark, Sauna und Kneipe. Er will nicht chocieren, und er bastelt keine vulgärpsychologischen Modelle. Alwin ist Tag und Nacht an den einschlägigen Orten anzutreffen, dabei einsam, immer auf Distanz bedacht: "Liebesgeschichten interessierten ihn nicht einmal im Kino. Männer, denen er begegnete und die Interesse an ihm zeigten, die ihn ein weiteres Mal sehen wollten, ließ er stehen." Der einzige Freund stirbt an Aids, Reisen sind ständige Fluchtversuche. Alwin ist sexsüchtig, aber das Leben ist trotz der kurzen Befriedigungen frustrierend, immer wieder kommt es vor, daß "einer ihn mittendrin einfach stehenließ, weil er nicht mehr wollte, ihn wie einen Idioten stehenließ, oder sein Schwanz nach dem Ficken voller Scheiße und das letzte Taschentuch schon verbraucht und weggeworfen war, oder einer ihm rücksichtslos die Hose vollspritzte, oder er in einem Park in Hundescheiße trat und ihn der Gestank trotz allen Abstreifens der Schuhe im Gras bis nach Hause verfolgte. Dann erfüllte ihn ein Ekel und Überdruß, der tagelang nicht von ihm wich und ihn von allem fernhielt." Die "Liebe" zu einem Rumänen, dem Alwin nach Bukarest nachreist und der ihn dann nicht einmal erkennt, ist natürlich auch ein Witz. Das Buch endet mit einer Epiphanie im SM-Folterkeller. Ein Problem beim schwulen SM ist es bekanntlich, daß die Zahl der Masochisten die der Sadisten um ein Vielfaches übersteigt
Florian Neuner

Thomas Jonigk: Jupiter. Residenz Verlag, Salzburg, 1999. DM 36.80
Belmen O: Der nackte Soldat. Ritter Verlag, Klagenfurt, 1999. DM 29

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