Ausgabe 08 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Die kleine Sensation im Alltag

Die besten Reportagen des diesjährigen Egon Erwin Kisch-Preises vereinigt ein Sammelband

Im Garten von Täve Schur stapeln sich zwei eingemottete Trabis, ein tschechischer Motorroller und eine Badewanne, die er auf dem Müllplatz in Gardelegen fand. Daneben Holzkisten mit Hunderten von Suppenschüsseln, alte Eisenbahnschwellen und die vielen anderen Sachen, die "die Leute im Kapitalismus einfach so wegschmeißen" - schön ist es, den journalistischen Blick ins Private schweifen zu lassen und einem Porträt so die nötige Tiefe zu geben. Ironie scheint jedoch fehl am Platz: Perfekt wird ein Charakter umrissen, der in die neue Zeit nicht paßt - und keine Schwäche ausgelassen, immer wieder grelles Scheinwerferlicht dorthin, wo es am unbequemsten ist. Als Ergebnis eine Reportage, die härter und schärfer ist als Wirklichkeit. Kristallklar und kalt, formvollendet.

Alexander Osang besuchte den verunglückten PDS-Kandidaten zur Bundestagswahl. Mit seiner Reportage gewann er den zweiten Preis des von der Wochenzeitschrift "Stern" gestifteten Egon Erwin Kisch-Wettbewerbs. Der dritte Preis ging an "Die Welt des Herrn Conrad", eine einfühlsame Schilderung des Wahns. Gestalten beobachten Conrad auf der Straße, in seiner Wohnung findet er Richtmikrofone so groß wie Staubkörnchen: Er steht unter Beobachtung, seitdem er der Polizei zwei Personen meldete, die ihn an RAF-Attentäter erinnerten. Inzwischen ist das schon sechs Jahre her. Über 100 Millionen Mark muß es bisher gekostet haben, rechnet der vierzigjährige Diplommathematiker vor. Nur die mit dem ersten Preis ausgezeichnete Reportage wirkt etwas farblos - sie besteht aus vielen nur schwer zusammenfindenden Versatzstücken über eine Ost-Berliner Eishockeymannschaft, die "Eisbären".

Randfiguren einer zersplitterten Gesellschaft, aber auch Mord in unterschiedlichsten Facetten sind Themen der besten für den Kisch-Preis eingereichten Reportagen. Mord an einem Schweizer Hotelier auf Kuba, Selbstmord eines eigensinnigen, verschuldeten Bauern in der Nordheide, allmählicher Giftmord an einem Ehemann in der Schweiz. Reportagen machen Morde sensationell, indem sie ihre Alltäglichkeit darstellen. Den Einkauf vorher oder die Ruhe danach. Die Eltern des Ermordeten, die Freundin des Mörders. Auch irgendwie spannend.

Bei Egon Erwin Kisch war die Sensation stets politisch oder sozial. Er schrieb über Unterdrückte in der Welt, über Menschen, die für Freiheit kämpften, über Arme, die die starke Hand Reicher fühlen mußten. Eine gängigere Art von Sensation peilt der nach Kisch benannte Preis des "Stern" an: Hier geht es allgemeiner um das Unerhörte, das Unsittliche - nach dessen Erfahrung man nicht mehr ruhig schlafen kann. Um Karrieren, Gewinner und Verlierer. Der Wirtschaftsjournalist Andreas Molitor etwa schreibt packend über den Fusionsmarkt, über gierige Investmentbanker und milliardenschwere Deals.

Mehrere der in die engere Auswahl gekommenen Beiträge thematisieren Nazi-Herrschaft und Nazi-Verbrechen. Der polnische Jude Sylvin Rubinstein erzählt seine Lebensgeschichte geprägt von äußerer Gewalt. Der Nationalsozialismus beendet seine junge Tänzerkarriere und ermordet seine Schwester und Tanzpartnerin. Nach 1945 tanzte Rubinstein den Flamenco - den weiblichen Part, zum heimlichen Andenken an seine Schwester.

Stilistisch und inhaltlich haben die für den diesjährigen Kisch-Preis nominierten Reportagen mit dem Namensgber wenig gemein. Sie sind innovativ strukturiert und frech geschrieben, mit gibt kurzen Sätze, am besten ohne Verb. "Nichts ist exotischer als die einfache Wahrheit", schrieb Kisch einmal. Diese Wahrheit ist "mit anderen Augen" sensibel "heraus"beobachtet. Inzwischen aus ganz anderen Blickwinkeln: Täve Schur sitzt mit ausdrucksloser Miene an seinem Wohnzimmertisch. Es ist ruhig. Schur kann Ruhe nicht ertragen. Er muß in die Lücke springen, weil er denkt, daß es von ihm erwartet wird. "Ja, die sozialen Bedingungen, Mensch", sagt er plötzlich. "Die Interessen vertreten. Für die Unteren. Ich kann jetzt nicht kneifen. Ich muß kämpfen."
Christian Domnitz

"Schreib das auf!", Egon Erwin Kisch-Preis 1999, Aufbau Verlag, Berlin 1999. DM 39.90.

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 08 - 1999