Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kein Patentrezept

Aber die Müllerstraße setzt auf die Zukunft

Die innerstädtischen traditionellen Einkaufsstraßen kämpfen um ihr Überleben. Bedrängt von Einkaufscentern, ins Grüne ziehenden, kaufkräftigen Stadtflüchtlingen, hoher Arbeitslosigkeit und geringem Lohnniveau, taucht jetzt auch noch das Schreckensgespenst von Factory-Outlet-Ansiedlungen auf. Um der drohenden Verödung der gewachsenen Stadtstrukturen und dem Verlust von Steuereinnahmen etwas entgegenzusetzen, entwickelt sich kurz vor zwölf im Wedding doch noch so etwas wie ein Gemeinsinn. Zumindest vereint das gemeinsame Problem und dessen Dringlichkeit die unterschiedlichsten Interessensvertreter auf der Müllerstraße. Handeln tut Not. Und damit das nicht kopflos geschieht, wurde die sogenannte "Zukunftskonferenz Müllerstraße" ins Leben gerufen (siehe scheinschlag 2/99).

Rundum zufrieden sind deren Initiatoren mit dem bisher Erreichten. Nachdem Ende Januar über 500 Passanten bei eisigem Wetter zum Wohl und Wehe der Einkaufsstraße befragt worden waren, konnten die Ergebisse der Umfrage in die dreitägige Konferenz Ende Mai einfließen. Ziel war es, die Attraktivität der Müllerstraße zu bessern. Und im günstigsten Fall so etwas wie einen Imagewandel zu bewirken. Erstaunlicherweise ergab die Befragung, daß die Müllerstraße im allgemeinen gar nicht so schlecht wegkommt, wie man vielleicht vermuten könnte. Eine große Liebe entwickelt sich zwar bei den wenigsten zu dieser vielbefahrenen Straße, aber mit den Einkaufsmöglichkeiten sind weit über die Hälfte zufrieden. Ein Drittel sorgt sich aber dennoch wegen der gehäuften Geschäftsaufgaben. In der Umfrage nicht enthalten ist allerdings die Meinung derjenigen, die der Müllerstraße völlig den Rücken gekehrt haben. Die Kunden des Gesundbrunnen-Einkaufscenters hätten da vielleicht ein anderes Urteil gefällt.

Ein Hauptproblem wird die geringe Kaufkraft im Wedding bleiben. Von den Befragten hatten 43 Prozent weniger als 2000 Mark netto monatlich zur Verfügung. Erfreulich ist, daß die meisten Besucher zu Fuß oder mit den Öffentlichen gekommen sind. Ganz stark bemängelt wurde, daß es keinen Radweg gibt. Insgesamt ein vielfältiger Beitrag, der die unterschiedlichen Interessenvertreter auf der Konferenz beschäftigte. Neun Projekte werden in Kürze in Angriff genommen, unter anderem der Aufbau eines City-Managements. Ein bißchen Aktionismus und die Weisheit "alter Wein in neuen Schläuchen" einkalkuliert, könnte es tatsächlich gelingen, daß in Zukunft alle an einem Strick zu ziehen.

Doch über eins waren die Bezirkspolitiker, Verwaltungsmitarbeiter, Vertreter von Firmen und Geschäften, Anwohner, die Handelskammer und die BSR vor allem erstaunt: Man konnte miteinander reden. Manch einer schwärmte sogar von einer "neuen menschlichen Erfahrung". Es soll Leute gegeben haben, denen man es nie zugetraut hätte, daß sie sich an einen Tisch setzen. Wie mag es sonst da zugehen, fragt sich der Außenstehende irritiert. Allein für diesen Grundkurs "konstruktives Miteinander" scheint sich die Sache schon gelohnt zu haben. Nur die BVG verpaßte diese Chance. Sie hielt es nicht für nötig zu erscheinen.

sas

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  Ausgabe 06 - 1999