Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Sand im Getriebe

Der Psychopath als Burschenschafter. Ein Szenarium von Tankred Dorst im Theaterdock

Sand - was für ein Name für einen fanatischen Einzeltäter! Das ist einer, den gibt es wie Sand am Meer. Der will der Sand sein im Getriebe der Geschichte. Es soll nicht nur rieseln, es soll knirschen.


Dieser Sand heißt Karl Ludwig, und Tankred Dorst, der Dramatiker mit dem Händchen für bedeutungsschwere Namen ("Toller") hat dem Burschenschafter Sand, der 1819 den Lustspieldichter August von Kotzebue ermordete, ein Szenarium gewidmet. "Sand" auf der Bühne des Theaterdocks, das ist der Weg von der Sehnsucht nach Sinn in die totale Tat, den Mord. Den historischen Rahmen (Napoleon, Wartburgfest, Restauration) wahrt Eva-Karen Tittmann bei ihrem Regiedebüt - als Szenario für das prägende Moment des Stückes: die Psychopathologie Sands.

Frieder Ott ist Sand, der manisch Leidende. Da sitzt er an seinem Schreibtisch, blickt wirr in den Spiegel (etwa: Hamlet als Narziß) und raunt zu sich und seinem Gott. "Wille" ist sein Lieblingswort. Der Theologiestudent lebt in einer maßlos aufgeladenen, engen Welt der abstrakten Zwiegespräche und zwanghaften Gesten. Ganz in sich und doch schutzlos am Rande der Bühne, ringt er zitternd um ein Körnchen Wahrhaftigkeit und produziert nur Selbsthaß. Sand ist nah, er vibriert, die bebende Mimik Otts dominiert den Raum, kontrastiert die fröhlichen Saufgelage der Kommilitonen im Hintergrund.

Jedoch, was hat Sand in diesen inneren Stellungskrieg getrieben? Falsche Entscheidungen etwa? Falsche Freunde? Freud? Das Stück berichtet nur von dem Ticket, auf dem er sein Schicksal vollendet: Der nationalistische Zeitgeist bläst ihm hehre Ideale in die tiefe Seele. Wie ein Ertrinkender klammert sich sein Haß an Kotzebue, der gegen die Burschenschaften agitiert - der einzige bedeutende Kurzschluß zwischen Sands Autistenwelt und dem übrigen Bühnentreiben. Wir ahnen, das Sands Tragik das Leben an sich ist.

Sand deliriert in Dolchstoß-Phantasien, schreibt Abschiedsbriefe und taucht unter. Berichte Dritter dokumentieren seine Stationen zum Mord, der dann zuletzt vom ganzen Ensemble im Stile eines Chores nüchtern protokolliert wird. Bitter schmeckt dieser sicher gesetzte Kontrapunkt und tilgt die Emotionalität der Schreibtischszenen. Sand ist nicht mehr Mensch, er ist ein Fall geworden.

Als Sand dann nochmals spricht ("Gott ist Blut!") erscheint er bereits als der Wiedergänger, der er eigentlich ist. Denn exemplarisch ist nicht Sands historische Verstrickung, er ist kein politischer Mensch. Sand ist eher Trenchcoat-Mafia als RAF. Eine eigentümlich aktuelle Figur in unserer Zeit der umfassenden medialen Simulation, einer, der verzweifelt die Echtheit seines Daseins spüren wollte. Wenn es sein muß, um den Preis desselben: Durch das Schwert erfolgte seine Hinrichtung.

Klemens Vogel

"Sand" von Tankred Dorst, 18. bis 20.6 im Theaterdock, 20 Uhr.

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 06 - 1999