Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
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Hilfe vom Jugendamt

Es gibt Leute, die in aller Stille Gutes tun- manche davon sitzen unbeachtet in Ämtern

Wenn es bei den Bekannten immer kracht oder die alleinerziehende Freundin nicht weiterweiß - was tun? Im Jugendamt findet man offene Ohren und manchen Rat. Viele Menschen bringen das Jugendamt nach wie vor eher mit einer Keule als mit einer helfenden Hand in Verbindung. Zu Unrecht: Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ist, im Gegensatz zu früheren Jugendwohlfahrtsgesetzen in Ost und West, sehr emanzipatorisch. Wer bekommt welche Hilfe?

Auf diese Frage findet man keine eindeutige Antwort. Hilfe bekommt, wer Hilfe braucht - und "Hilfe!" ruft. Letzteres fällt nicht leicht in einer Zeit, die nur auf Härte setzt. Das Eingeständnis der Hilfebedürftigkeit ist oft das härteste Stück Arbeit. Für die Familien - wer gibt schon gern zu, nicht weiterzukommen und läßt sich in die dreckige Wäsche gucken? - und für die Helfer - wer geht schon gern zu Leuten, wo es kracht, muffelt oder so still ist, daß einem kalt wird? Die Klientel ist längst nicht mehr nur der klischeebehaftete Sozialhilfeempfänger mit tragischer Kindheit und verkorkster Jugend. Immer mehr Eltern aus der Mittelschicht gestehen sich ein, mit sich und ihren Kindern Probleme zu haben, bei denen sie Unterstützung benötigen. Jugendhilfe - eine "soziale Speisekarte"

Die meisten Familien kommen von selbst. "Mein Kind kommt in der Schule gar nicht mehr klar," oder "Wir haben Mietschulden, und die Wohnungsbaugesellschaft hat geschrieben, daß Sie uns helfen können." So oder ähnlich lauten meist die ersten Sätze, die Koordinatorin Monika Gorall im Jugendamt Mitte von den Eltern hört. In Gesprächen mit Sozialarbeitern wird ein Hilfeplan aufgestellt. Die Liste der Hilfsangebote liest sich fast wie eine Speisekarte. Es gibt soziale Gruppenarbeit, Erziehungsberatung, Hausaufgabenhilfe sowie Tagesgruppen, Einzelfallhilfe und Familienhilfe, intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfe, Vollzeitpflege oder auch Heim. Hilfe, die an die Nieren geht

"Hilfe soll verändern, nicht kompensieren," lautet das Motto von Monika Gorall. Gerade die Familienhilfe sei ein sensibler und intimer Bereich. Der Familienhelfer verbringt im Schnitt zehn Stunden pro Woche in der Familie, und das bis zu zwei Jahre lang. Seine Aufgaben liegen je nach Vereinbarung bei Hausaufgabenhilfe, Paarberatung, Unterstützung der Alltagsführung, Motivation zu aktiver Freizeitgestaltung, Erhalt der Wohnung - oder von allem etwas.

Familienhelfer müssen einen schwierigen Balanceakt aushalten. Sie stehen in vieler Hinsicht auf wackligem Boden: Weder bietet das Honorarverhältnis zum Land Berlin arbeitsrechtliche Sicherheit, noch ist sicher, daß die Familien auf Dauer mitspielen. Papa kann jederzeit sagen: "Du verziehst mir meinen Jungen - so wird aus dem nie etwas!" und die Hilfe abbrechen. Und wenn Papa andere Vorstellungen hat als Mama - und wo ist das nicht so? - liegen die Nerven schnell blank.

Supervision ist so etwas wie Eheberatung - nur eben für Familienhelfer. Regelmäßig treffen sie sich und tun, was sie aus Diskretionsgründen sonst nirgends dürfen: über "ihre Fälle", die Familien, reden. Außerhalb dieser trauten Runde herrscht über die Familienangelegenheiten absolutes Schweigegebot. Gemeinsam werden Auswege aus festgefahrenen Situationen gesucht. Neben der Problemlösung dient die wöchentliche Sitzung aber auch der seelischen Entlastung der Helfer. Gegenseitiger Zuspruch ist nötig. Wer auf Dauer immer wieder Rückschläge erlebt, steckt das nicht so einfach weg. Erfolgreiche Sozialarbeit? Manch einer wird beim Gedanken daran zynisch. Andere suchen wenigstens nach kleinen positiven Zeichen der Veränderung, um sich - und der Familie - Mut zu machen.

Veränderung braucht Zeit, und mancher Erfolg zeigt sich erst Jahre später, lange nach Ende der Arbeit. Das bringt die Jugendhilfe wie den gesamten sozialen Bereich unter Legitimationsdruck. Angesichts leerer Kassen in den Bezirken wird es immer wichtiger, positive Impulse hervorzuheben, die von dieser bedeutenden, fast intimen Arbeit ausgehen. Eine geschliffene Fachsprache reicht als Ausdruck der Professionalität schon lange nicht mehr. Nachvollziehbare Maßstäbe für die Qualität der Arbeit haben sich in der Breite noch nicht durchgesetzt. Die Zeit drängt. Es müssen Kriterien entwickelt werden, die festlegen, was "gute Familienhilfe" zu bewirken hat. Sonst wird sich der erreichte Standard der Arbeit kaum halten lassen. Und dann wäre auch die Angst vorm Jugendamt wieder berechtigt. Im sozial kalten England erzählt man sich einen Witz: "Was ist der Unterschied zwischen einem Rottweiler und einem Sozialarbeiter?" - "Von einem Rottweiler bekommst Du Dein Kind vielleicht zurück." Eine Gesellschaft, die soziale Probleme unter den Teppich kehrt, muß starken Druck anwenden, daß die Probleme auch unter dem Teppich bleiben. Emanzipation adé.

Holger Klemm

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  Ausgabe 06 - 1999