Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Bergstraße 19

Ein Haus und seine Bewohner

Wie ein Steinzeitspeer im niedergestreckten Mammut ragt der Baukran hoch über das alte Haus in der Bergstraße in den Himmel. Es ist mehr als ein Haus, es ist einer der letzten Vierseitenhöfe rund um die Ackerstraße. Im Torbogen zum Hinterhof waren bis vor kurzem noch handgedruckte Wahlplakate vom Neuen Forum zu erkennen, geklebt anläßlich der ersten freien Volkskammerwahl 1990. Hinter dem Gerüst und seinen Planen versinkt nun das nächste Alt-Ostberliner Gesicht.

Ja aber, möchte man rufen, der Milieuschutz!! Unnötige Sorge: Der späte Charme des Lebens auf diesem Hof war schon während der letzten DDR-Jahre am Verglimmen. Im rechten Seitenflügel hatte ein Ofen, mehrere Zimmerdecken durchbrechend den Weg von oben nach ganz unten gefunden und so diesen Flügel unbewohnbar gemacht.

Quergebäude und zweiter Flügel hatten es in sich, ein bunt zusammengewürfeltes Volk. Brotbackende Studentinnen mit dem herrlichen Sonneberger Dialekt und eine dicke Mutter und ihr kleines blasses Kind, den Schlagzeuger von Silly und den Katzenvater, der seine dunkle Parterrewohnung mit zwei Meter langen Neonröhren aufwertete und eine riesige Weltkarte im Zimmer hatte. Aus den Fenstern einer anderen Wohnung trat gelegentlich Feuerschein - Strom abgestellt. Dort ging es laut zu.

Eine Stimme wie aus der Blechtonne, die im Synchrostudio für Filme besonderer Art von unschätzbarem Wert gewesen wäre, mischte sich mit einer schönen, klagenden Altstimme. Letztere gehörte Elli, einer pensionierten Krankenschwester, die durch unzählige Nachtwachen etwas stumpfäugig geworden war. Ihre ansehnliche Rente teilte sie mit Hotte, einem kleinen Mittfünfziger mit strubbligem Haar und dieser unwahrscheinlichen Stimme. Er war der Meinung, genug gearbeitet zu haben. Angesichts seiner riesigen Hände ging das wohl in Ordnung.

Geistiges Zentrum des Ganzen war aber das Wohnschlafzimmer von Hildegard Heyse. Obwohl die über Siebzigjährige krankheitsbedingt ihre Wohnung kaum mehr verließ, war sie über die Lebenslage der Hofbewohner bestens im Bilde. Vor dem Krieg hatte sie als Cutterin in einem Filmstudio gearbeitet. Sie konnte lebendig davon erzählen, sodaß kaum jemand an ihrer immer offenstehenden Wohnungstür vorbeigehen mochte, ohne auf einen Kaffee hereinzukommen.

Dann gab es noch den Kulturraum, eine unvermietbare dunkle nasse Eckwohnung, die bei schlechtem Wetter den Sitzplatz im Hof ersetzte. Als die Rentnerin Lisbeth im Telelotto 14000 Mark gewonnen hatte, gingen dort wochenlang die Lichter nicht aus.

Vom Dachgarten aus starteten Exkursionen über lose Ziegel und warme Dachpappe zum nächsten Straßenzug. Die Aussicht reichte über Schornsteinlandschaften bis zum Alexanderplatz. Die letzte Dachgartenparty 1990 vereinte nette Kreuzberger Chaoten mit Altbewohnern und anderen Gästen. Nach dem bejubelten Kasperletheater erzählte ein junger Hobbydemonstrant seinem amüsierten Gesprächspartner von seinen Abenteuern. Er konnte nicht ahnen, einen angehenden Kripobeamten vor sich zu haben...

Einige Zeit danach wurde der Hof selbst von den Hartgesottensten verlassen. Sieben Jahre steht er nun leer. Welches Leben dort einzieht? Neue Fassade und neue Besitzer hin oder her: Vielleicht trifft man sich bald wieder zur nächsten Dachgartenparty.

Christof Huth

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  Ausgabe 05 - 1999