Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Adieu, Herr Bartoschewski

Als ich ein Kind war, stellte ich mir unter einem Arbeitslosen einen Menschen auf einem Sofa vor. Vor dem Sofa standen Pantoffeln. Der Mensch war in meiner Vorstellung männlich, mittleren Alters, mit Bartstoppeln. Ein sehr ruhiges Bild. Es beschrieb weniger einen Status als einen Zustand, in dem meiner Beobachtung und ergänzenden Vorstellung nach bestimmte Menschen lebten: zum Beispiel ein Mann, der in unserer Nachbarschaft wohnte: Herr Bartoschewski.

Mit der Frage einer fehlenden Anstellung hatte das Bild des Arbeitslosen aus meiner Sicht nicht viel zu tun. Ich glaube, ich zog diese Möglichkeit für Herrn Bartoschewski überhaupt nicht in Erwägung. In meinen Augen gehörte es nicht zu den Attributen seiner Erscheinung, morgens in die Porzellanfabrik zu gehen, neben deren Fabriktor unsere Wohnung lag, wie es fast alle anderen unserer nächsten Nachbarn taten.

Zu seinen Aufgaben gehörte eher das gemächliche Latschen über den Hof mit einem Nylonbeutel in der Hand, der Flaschen enthielt. Oder die mythische Handlung des Stempelngehens - obwohl ich Herrn Bartoschewski nie habe Stempelngehen sehen. Weder wußte ich, wo er das tat, noch welchem Zweck es diente.

Wir lebten mitten in den siebziger Jahren; wir Kinder trugen Schlaghosen, und der Mann, der die Nachrichten vorlas, war unsterblich, ohne Alter, und trug einen Seitenscheitel. Neben anderen mysteriösen Begriffen plazierte er in meinem Kinderhirn den Begriff: Arbeitslosenzahl.

Auch die Erwachsenen redeten dann und wann über die Arbeitslosenzahl. Sie sagten, daß sie ständig weiter anstiege, mit dem gleichen wohlig angeregten Entsetzen im Gesicht, wie wenn es um die Bevölkerungsexplosion ging oder um Teufelskreise der Mißwirtschaft in Entwicklungsländern.

Dennoch hatte die Kaste der Arbeitslosen ihren gesellschaftlichen Platz auf ihrem Arbeitslosensofa und konnte doch - bemitleidet oder beargwohnt zwar - im großen und ganzen recht unbehelligt das Erscheinungsbild des Arbeitslosen zur Geltung bringen.

Heute ist alles ganz anders geworden. Der Ausdruck "Entwicklungländer" wurde durch irgendeinen anderen ersetzt, der Nachrichtenmann hat seinen Seitenscheitel für immer verloren, und die Arbeitslosen sind dabei, ihre traditionelle gesellschaftliche Stellung in der Arbeitslosenkaste zu verlieren. Die Arbeitslosenzahl hat offensichtlich eine heikle Grenze überschritten.

Hatte man bis dahin das Erscheinungsbild des Arbeitslosen noch als abschreckendes Beispiel und damit zur sittlichen Erbauung gebrauchen können, scheint es inzwischen durch seine Allgegenwart der geforderten sittlichen Haltung dermaßen Hohn zu lachen, daß man es sich nicht mehr weiter leisten mag.

Unsere jetzige Regierung hat es zu ihrem ehrgeizigsten Ziel erklärt, diesen ungezügelt wuchernden Schandfleck zu beseitigen, bevor man sich völlig zum Gespött der Leute macht. Das soziale Netz, auf dem der Arbeitslose ruhte, soll zu einem sozialen Trampolin umgebaut werden, das den Arbeitslosen, kaum daß er als solcher sichtbar wird, wieder von sich federt, ganz gleich wohin.

Da der Ort, der den weggefederten Arbeitslosen aufnehmen soll, noch nicht gefunden wurde, das soziale Trampolin aber bereits gespannt und mit Sprungfedern versehen wird, ergibt sich eine absurde Situation. Es entwickeln sich eine Vielzahl von Verwahrungsprovisorien, deren Eigenleben die bizarrsten Blüten treibt.

Das nächste Mal in meinem Leben kam ich mit Arbeitslosigkeit in Berührung, als ich mich aus dem Puppenkokon des Ewigstudenten befreit hatte und nun als volleinsatzfähige Erwerbsperson den Weg zum Arbeitssamt und anschließend zum Sozialamt unternahm.

Ich wurde als "sonstige Arbeitskraft" registriert (Dekorationsdiplom wird nachgereicht) und ohne Arbeit wieder nach Hause geschickt. Mein erster eigener Beitrag zur Arbeitslosenzahl. Ein schwindelerregendes Gefühl!

Bisher hatte ich mich als irgendein Hans-guck-in-die-Luft empfunden. Nun war ich ein richtiger Arbeitsloser, so wie früher Herr Bartoschewski. Beim Sozialamt hatte man mir etwas Geld gegeben und einen Zettel, auf dem ich meine Bemühungen um Arbeit dokumentieren sollte.

Ich war und bin alles andere als die Arbeitskraft, auf die die Welt gewartet hat. Meine Weggefährten und ich hatten jahrelang in Universitäten ausgeharrt, um in völlig berufsuntauglichen Kopfdisziplinen ausgebildet zu werden. Dieser widersinnig anmutende Weg wurde nicht ganz umsonst gewählt, mochte man doch denen, die sich mit wirklichem Ehrgeiz um die richtigen Berufe schlagen, nicht überflüssigerweise im Wege stehen. Wir nutzten inzwischen die Zeit, um Ansprüche und Fähigkeiten auszubilden, die mit der Berufswelt gänzlich inkompatibel sind.

Auf dem mir anvertrauten Vordruck listete ich in sinnloser Quantität das Ergebnis dieses Werdegangs auf. Außerdem bekam ich meine ersten eigenen Arbeitslosenstempel, die ich nicht ohne Stolz bei meiner Sachbearbeiterin vorwies.

Noch wußte ich nicht, daß der Sozialamtscomputer meine Daten bereits abgetastet und mich aufgrund von Alter und Status zur sofortigen Absorbierung aus dem Arbeitslosenstatus freigegeben hatte. Es sollte keine drei Monate dauern.

Als ich zum dritten Mal zum Abfertigen kam, wurde mir beiläufig ein Papier in die Hand gedrückt, mit der Anweisung, bis zum nächsten Mal bei "StellWerk" vorzusprechen: Regionale Beschäftigungsagentur Kreuzberg. Wenn ich den Termin nicht einhielte, sollte mir sofort jegliches Geld gestrichen werden.

"Warum holen sie sich nicht vom Arbeitsamt eine Arbeitbeschaffungsmaßnahme?" Die erste aufmunternde mütterlichen Dame, der ich zwei Wochen später bei "StellWerk" gegenübersitze. Sie hat sich die Schilderung meiner Lage angehört und blickt jetzt ratsuchend ihren Computer an. "Wissen Sie, das habe ich auch so gemacht. Und ich weiß auch nicht, was man mit Ihnen sonst anfangen könnte. Ach so, ABM - da sind sie nicht berechtigt. Aber Sie könnten ins IdA-Programm. Das sind so ähnliche Stellen für Sozialhilfeempfänger. «Integration durch Arbeit´ ist das. Da hätten Sie den Vorteil, daß Sie anschließend beim Arbeitsamt sind und nicht mehr beim Sozialamt."

Während sie mir das erklärt, versuche ich, ein anderes Gespräch mitzuverfolgen, das die Beratungsdame am Nebentisch mit einem Mann in Lederjacke führt. Sie scheint Schwierigkeiten zu haben, seine Berufswünsche und Fähigkeiten in ihrer Kartei unterzubringen.

Eben ist er dabei, ihr zu erzählen, daß er ein ziemlich guter Taucher sei und sich auch vorstellen könne, in diese Richtung zu gehen... "Oder vielleicht eine Weiterbildung", sagt die für mich zuständige Beraterin und fügt hinzu: "Wir kriegen Sie da schon irgendwo unter." Der Lederbejackte erklärt inzwischen recht aufgeräumt, daß er schon so viel erlebt habe in seinem Leben und vorhabe, auch weiterhin noch recht viel zu erleben.

Seine Beraterin versucht, in ihrem Gesicht einen konsternierten Blick mit einem Lächeln zu vereinigen, und scheitert. Ich bekomme noch mit, daß sie auch ihm verspricht, ihn "schon irgendwo unterzubekommen".

Beim Hinausgehen entdecke ich auf dem Flur eine Tafel mit angepinnten Presseartikeln und erfahre, daß "StellWerk" selbst eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mit 18 Stellen ist, die sich das Sozialamt und das Arbeitsamt gemeinsam leisten. Sie hat die Aufgabe, in einem Jahr mindestens 1000 arbeitslose Sozialhilfeempfänger in irgendwelche Stellen zu vermitteln. Bei Erfolg bekommt sie noch weitere Fördermittel aus dem Sonderfonds "Neue Wege der Arbeitsbeschaffung".

Als ich reichlich benommen zurück auf die Straße stolpere, habe ich den nächsten Termin für "StellWerk" bereits in der Tasche. Langsam wieder zu mir kommend, wächst in meinem Kopf die Erkenntnis: Ich muß mir dringend selbst eine IdA-Stelle suchen. Andernfalls werde ich Termin um Termin bei "StellWerk" sitzen müssen, und zuguterletzt finden die "irgendetwas passendes" für mich.

Es gibt da eine breite Palette von Einsatzmöglichkeiten. Das fängt an beim Graffitimalen an öffentlichen Wänden, damit die echten Graffitimaler sich nicht mehr betätigen können, und es endet bei der Stellenakquise für "StellWerk" - also der ehrenvollen Aufgabe, anderen Arbeitslosen ABM-Stellen zuzuweisen.

Ich kneife mich in den Arm. Zweifelsohne bin ich wach, und das alles ist wahr. "StellWerk" - oh, ahnungsvoller Name: ein Rangierbahnhof, auf dem die Wägelchen mit der Aufschrift "Arbeitslose" auf abseitige Geleise jenseits der öffentlichen Kenntnisnahme dirigiert werden. Grasbewachsene Geleise, die irgendwo auf einer grünen Wiese enden. Dort werden die Wägelchen geleert und deren Insassen gezwungen, solange mit der Kinderpost zu spielen, bis sie wieder zurück aufs Wartegleis rangiert werden. Wer sich gut genug beträgt, darf der Rangierwärter sein.

Es bleibt noch zu sagen, daß ich inzwischen mit einer IdA-Stelle versehen werden konnte. Aus dem Arbeitslosenregister rausgeschmissen, wurde mir eine Videokamera um den Hals gehängt, mit der ich auf Kosten des Sozialamtes, des Senats und nicht zuletzt der EU ein Jahr lang unsere Stadt filmen darf. Vielleicht ist es ja, je sinnloser die Lage wird, umso wichtiger, die Sache in Bewegung zu halten. Adieu, Herr Bartoschewski! Bald wird keiner deiner Art mehr würdig mit seinem Beutel und seinen Flaschen über den Hof latschen. Nur noch in Verkleidung darfst du dich künftig in der Öffentlichkeit zeigen, mit einem Pinsel in der Hand vielleicht oder mit einer Kamera um den Hals. Horden verkleideter Bartoschewskis werden ausgesandt, um die Ruhe aus verschlafenen Berliner Hinterhöfen zu vertreiben und an ihrer Statt die Atmosphäre eines geschäftigen und arbeitsamen Treibens vorzutäuschen.

Bethseda Vieleck
aus: "Müßiggangster" Nr. 2

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