Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
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Die Straße gehört allen

Seit einiger Zeit ist die Große Hamburger Straße "verkehrsberuhigter Bereich" - und kaum jemand merkt es

Auf der Großen Hamburger Straße läuft eine Frau. Mitten auf der Fahrbahn. Der Autofahrer hinter bremst leicht ab, hupt und pfeift. Geh runter, soll das heißen. Eine Szene, die sich an dieser Stelle oft wiederholt. Auch Uschka Thierfelder von der Betroffenenvertretung Spandauer Vorstadt hat das schon erlebt, als sie auf der Straße stand und mit jemandem Ball spielte. Das sei schließlich keine Spielstraße, bekam sie zu hören. Ist es doch, hielt sie dagegen.

Fast. Zumindest ist es ausdrücklich erlaubt, wenn nicht sogar erwünscht, daß die Fußgänger auf der Großen Hamburger Straße auch die Fahrbahn benutzen dürfen. Denn diese Straße ist seit einiger Zeit ein "verkehrsberuhigter Bereich". Schilder am Straßeneingang und -ausgang markieren das. Und was ein verkehrsberuhigter Bereich ist, das müsse eigentlich jeder Fahrer wissen, "der nach 1975 seinen Führerschein gemacht hat". Sagt grimmig der zwirbelbärtige KOB Egon-Joachim Kellotat, der seit 1990 seinen Dienst in der Spandauer Vorstadt tut. Verkehrsberuhigter Bereich heißt: Alle Verkehrsteilnehmer sind gleichberechtigt. Autos dürfen nicht schneller als Schritttempo (also etwa 6 km/h) fahren. Und Radfahrer, fügt KOB Kellotat noch ein bißchen grimmiger hinzu, Radfahrer desgleichen. Die wären nämlich fast noch schlimmer, heißt: rücksichtsloser. Wenn sie auf Gehwegen fahren zum Beispiel.

Steffen Schütze vom Fußgängerverein "per pedes e.V." sagt: "Es ist eben ein Prozeß, der seine Zeit dauert." Das klingt gelassen und eine Spur resigniert. Denn eigentlich hatte per pedes e.V. hier eine Fußgängerzone beantragt. Unter guten Voraussetzungen: 70% der Anwohner besitzen kein Auto. Doch für die anliegenden Geschäfte, sagt Kellotat, wäre das der Tod gewesen. Ohne Lieferverkehr sei für sie nichts zu machen. Der "verkehrsberuhigte Bereich", sagt Schütze, sei eben ein Kompromiß.

Kompromisse waren auch mit der Denkmalpflege zu schließen. Denn eigentlich wäre in einem verkehrsberuhigten Bereich alles eine Verkehrsfläche. Daß es nun so aussieht wie jetzt in der Großen Hamburger, mit den alten Bürgersteigen, der alten Fahrbahn, teilweisen Gehwegvorstreckungen und neuen Aufpflasterungen, die am Beginn und Ende der Straße die Verkehrsberuhigung signalisieren, war ein Zugeständnis an die Denkmalschutzbehörde - und wohl auch an die knappen Kassen. Die Aufpflasterungen, die Uschka Thierfelder von der Betroffenenvertretung zu niedrig findet, waren für die Denkmalpflege eigentlich schon zu viel.

Es mag aber auch an diesen offenbar unzureichenden optischen Signalen liegen, daß sich die Fußgänger oft immer noch diszipliniert auf den äußerst schmalen Gehwegen quetschen. Manchmal sind diese nicht mehr als einen Meter breit. Hinzu kommen die Hindernisse, die durch die Sicherheitsabsperrungen vor dem jüdischen Gymnasium entstehen, oder durch Baustellengitter. Viele, hat man den Eindruck, wissen wirklich nicht, daß sie hier eigentlich auf der Straße laufen dürfen. Und viele Autofahrer scheinen es auch nicht zu wissen. Am Durchbrettern hindert sie dann noch am ehesten die durch abgestellte Autos geschmälerte Fahrbahn. Der Effekt wird durch die beiden Behindertenparkplätze auf der anderen Straßenseite verstärkt - Fahrzeuge müssen sich dann manchmal im Zickzack durch die Straße bewegen. KOB Kellotat findet aber, daß sich die Behindertenparkplätze auf der falschen Straßenseite befinden.

Immerhin ließe die Polizei "ganz ordentlich abschleppen", tröstet sich Steffen Schütze über den Kompromiß - in der Straße herrscht Parkverbot, ausgenommen die zwei Behindertenparkplätze und den Lieferverkehr. Doch mit dem Abschleppen unberechtigt parkender Autos ist das so eine Sache, wie Kellotat erklärt: Vor den Gerichten sei nämlich die Verhältnismäßigkeit des Abschleppens nicht unbestritten - manche meinen bei Klagen von Autofahrern, ein Knöllchen hätte auch gereicht.

Doch eine Änderung der Baumaßnahmen - beispielsweise eine Erhöhung der Aufpflasterungen - kommt nun nicht mehr in Betracht. Jedenfalls nicht in den nächsten zwanzig Jahren, wie Tiefbauamtsleiter Peter Lexen mit Blick auf die Bezirksfinanzen erklärt. Änderungen seien bestenfalls bei der Beschilderung möglich.

Uschka Thierfelder plädiert für öffentliche Aktionen auf der Straße. Durch die verstärkte Nutzung der Fahrbahn durch Fußgänger oder spielende Kinder müsse man die Autofahrer zu mehr Aufmerksamkeit für die Verkehrsberuhigung zwingen. Wenn ein Autofahrer das zwei-, dreimal registiert hätte, stelle sich automatisch eine Verbesserung ein. Kellotat warnt: "Der Ansatz, Kinder vorzuschicken, ist völlig falsch." Das sei ein zu hohes Unfallrisiko. Lieber solle man Erwachsene dort spielen lassen. Der Kontaktbereichsbeamte könnte sich außerdem Blitzer vorstellen, um Autofahrer zu mehr Disziplin zu veranlassen. Die Idee findet auch Frank Bertermann von der Betroffenenvertretung nicht schlecht. Zudem solle man überlegen, "Straßenmöbel" aufzustellen: Pflanzkübel etwa. Die könnten einerseits die Fahrbahn optisch einengen und anderseits die Atmosphäre einer verkehrsberuhigten Zone verstärken. Und sie müßten nicht nicht mal neu beschafft werden, so Bertermann: In der Oranienburger Straße stünden welche, direkt vor dem Monbijoupark, die an dieser Stelle eigentlich nutzlos wären. Möglicherweise könne man die einfach in die Große Hamburger Straße umsetzen? Aber auch dafür müsse erst einmal die Zustimmung der Denkmalpflege eingeholt werden.

Daß sich kaum ein Autofahrer an die Verkehrsberuhigungszeichen halten würde, hatten vor einem halben Jahr schon die Gewerbetreibenden der Straße bei einem Ortstermin wegen der endlosen Bauarbeiten befürchtet. Lieber wäre ihnen eine Einbahnstraßenregelung gewesen und ein Parkstreifen, der zur Verminderung der Geschwindigkeit auch jeweils versetzt auf beiden Straßenseiten eingerichtet werden könnte. Der Tiefbauamtsleiter hatte damals versprochen, nach einer gewissen Zeit die Erfahrungen der neuen Verkehrsregelungen zu überprüfen und sie gegebenfalls zu ändern.

Ulrike Steglich

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