Ausgabe 03 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Hip, hype, hyper undsoweiter

Die Softmoderne 99 im Podewil

Erste Bemerkung:
DOPPELKLICK

In einem Land, in dem elektronische Netzwerke
"Datenautobahnen" genannt werden müssen, um einer
gewissen Aufmerksamkeit versichert zu sein, - in einem
solchen Land hat sogenannte internet-Literatur ein
schwieriges Dasein.
Schon, soll das Kind einen Namen haben, tut man sich schwer.
Netz- oder Cyberliteratur, Hypertexte, Elektronische oder
Doppelklick-Literatur. Es ist, als fielen sie alle durch das Netz,
dessen Existenz sie doch bezeugen sollen.

Zweite Bemerkung:
AUTOBAHNLITERATUR

Vielleicht sollte man, der hiesigen Schwierigkeiten eingedenk,
"Datenautobahnenliteratur" sagen, oder, noch genauer:
"Datenautobahnen-der-Deutschen-Telekom-Literatur". Man
stünde damit zwar im internationalen, im Internetvergleich
etwas verloren, ja einsam da, auch wüßte man nicht einmal zu
sagen, was denn die einfache Form, also eine
"Autobahnliteratur" sei, aber die Formulierung könnte durch
ihren sozusagen autobahnmäßigen Reiz bestechen. Denn da,
wo´s geradeaus geht, ist man hierzulande vorn. Richtung zählt
im Land der Richtungswahlen und Trends, und wenn man
Richtung zählen kann, ist das fast so schön wie numerierte
Fahrbahnstreifen.

Dritte Bemerkung:
FASTMODERNE

Man hat sich indes anders entschieden und die Beschäftigung
mit einer Literatur, die nicht über Bücher, sondern an
Bildschirmen erfahren wird, Softmoderne getauft.
Softmoderne. Nach soft-cake, soft-core und soft-ice am Ende
nun also auch eine Moderne mit industriell induziertem
Schmelz. Industriezartem Schmelz, einem Gefühl eher, das der
Biß hinterläßt, denn einem Geschmack. Soft-ice, gewisse Sorten
Pudding und allgemein Fast Food zeichnen sich ja durch den
ersten Eindruck aus, dem nichts mehr folgt, und der darum
ein bleibender sein muß. Fast lasts.

Vierte Bemerkung:
TEXT VERFÜGEN

Zwar mag ein Name wie Softmoderne der Bewegung ihrer
Teilnehmer auf dem Markt dienlich sein - er fungiert als
Warenzeichen. Indes ist der Name zu durchsichtig gewählt, als
daß man einen strategischen Gebrauch von ihm machen
könnte. Er wird seiner Bestimmung nicht entsprechen und
keine neue Literatur etablieren. Denn Softmoderne gibt vor,
etwas begriffen zu haben, das (noch) nicht begriffen worden
ist. Deutlich lag die Ratlosigkeit während der zwei Tage im
Podewil zu Tage. Ratlosigkeit über den Umgang mit einer
Technik, die uns erlaubt, in nie zuvor dagewesenem Maße
ÜBER TEXT zu VERFÜGEN.

Fünfte Bemerkung:
SAALMIKRO

Man war uneingestandenermaßen ratlos. Das Publikum, das
wie in einer Talk-Show um Tischchen gruppiert oder in langen
Stuhlreihen geordnet saß und das hin und wieder über
Saalmikro kleinere Fragen stellen konnte. Die geladenen Gäste,
die einzeln oder gruppenweise, aber stets ein wenig dem
Publikum entrückt, im Scheinwerferlicht auf dem Podium Platz
genommen hatten. Und schließlich die Organisatoren der
Softmoderne, die in allem, was sie sagen, ein wenig zu
überzeugt klingen: "... nachdem alle Utopien und Dystopien
weggefallen sind ..." Solche Sätze sind unglaublich. Die Fragen
auch: "Wie wäre es, wenn ein Mensch sich in einem Hypertext
bewegen könnte?"

Sechste Bemerkung:
HYPERTEXT

Hypertext war das entschieden gebrauchteste Wort der
zweitägigen Veranstaltung. Hypertext. Darunter hat man sich
wohl, genaueres wurde nie mitgeteilt, ein Stück Literatur
vorzustellen; Texte, die nicht linear, also von vorne nach
hinten, gelesen werden, sondern die erlauben, daß man sich
nach allen Seiten in ihnen bewegt. Ein eingängiges Beispiel
dürfte die Bibel sein, in der ein jeder Satz auf einen anderen
bezogen werden kann. Immer wieder haben Avantgarden mit
solcher Komplexität sich beschäftigt. Joyce (Finneganns Wake),
Eisenstein (theoretische Schriften), Cortazar (Rayuela/Himmel
und Hölle), und noch die Psychoanalyse, die große Schwester
der modernen Künste, begreift Seele als eine Art Hypertext.
Die Beispiele ließen sich fortführen, hier in der Softmoderne
war nun das Internet angesagt - wohl weil man dort über
LINKs navigiert, das heißt über vorgegebene Assoziationen.
Man hängt sich auf sein Key-Board, klickt hier und da mal ein
wenig herum, wartet auf die nächste Welle Daten und surft.
Nur, wo?

Siebte Bemerkung:
BERLIN

In Berlin natürlich! Berlin ist ja ganz groß zur Zeit. Berlin ist
städtisch, nein, Berlin ist sogar ausgesprochen urban. Und wo
sonst, wenn nicht in Berlin, macht man Erfahrungen, die´s
woanders gar nicht gibt.
Also folgendes: Berlin ist modern. Internet ist modern. Berlin
ist unüberschaubar. Internet ist unüberschaubar. So. Jetzt
nehmen Sie Berlin, machen da Literatur draus, und dann
nehmen sie das Internet, und holen da Struktur raus, und
dann nehmen Sie beides und machen Hypertexte.


i g wilms


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