Ausgabe 03 - 1999berliner stadtzeitung
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Musik für die Massen

Neue Platten: Knistern, Knarzen, Knotenpunkte

Stadt, Wald und Wüste - das sind drei Bereiche, die sich ausschließen. Wo das eine ist, kann das andere nicht sein. Berührungen können nur am Rand, an den Übergängen stattfinden - in Natura zumindest. Abstrakt musikalisch spielen diese Trennungen keine Rolle, denn Ausgangspunkt für die hier erwähnten elektronischen Tüfteleien an den Landschaften ist die Stadt. Egal welches Terrain musikalisch sondiert wird, die Musiker erkunden es von den Metropolen aus.

1. Stadt - Berlin

Der technoide Sound Berlins ist in Erweiterung begriffen. Zwei Berliner Neuerscheinungen sind maßgeblich am Tiefengewinn beteiligt. Interstate heißt das zweite Album von Monolake (EFA) und verzückt mit Schichtungen aus dem Alltag. In ständiger Verschiebung knarzen und zirpen Geräusche, die, wo immer sie auch herstammen mögen, in der Bearbeitung von Gerhard Behles und Robert Henke zu einem rhythmisch-dynamischen Projekt auswachsen. In der suggerierten Bewegung des "Interstate" taucht dann jenseits der Stadtgrenzen sogar eine schimmernde Leuchtreklame mit der verlockenden Botschaft "Dancefloor" auf.

Ebenfalls mit der zweiten Veröffentlichung unter dem Namen Pole 2 (PIAS) bastelt Stefan Betke an einem unverwechselbaren Sound. Und wie bei Monolake scheint sein Ausgangsmaterial das vorgefundene Knarzen zu sein. Nur ist seine Entwicklung eher ein Soundgeflecht denn eine Soundschichtung. Der Unterschied liegt in der rhythmischen Ausgestaltung, die durchgängig in Richtung Dub gleitet, sich also eher verwebt als übereinanderschichtet. So flimmert, vibriert und hallt diese akustische Leichtigkeit, wie ein enorm dehnbares Netz um minimale Leerstellen und kurzzeitig verdichtete Knotenpunkte. Ein durch und durch angenehmer Vorgang.

2. Wald - Frankfurt

Dunkel, mythisch, wagnerianisch ist der erste Eindruck des Königsforsts von Gas (Mille Plateaux). Orchestrale Hintergrundbeschallung, quadratisch dumpfe Beats und eine permanente Verlangsamung ergeben aber alles andere als den mythenverhangenen deutschen Wald. Denn auch hier raschelt und knarzt es, finden sich gedämpfte Störgeräusche, klingt ein dezentes, sich endlos wiederholendes Alpen-Erkennungs-Sample durch die Tiefe des Waldes. Durch seine monotone Hartnäckigkeit durchaus ernstzunehmen, für erholungssuchende Großstädter allerdings nur bedingt brauchbar.

3. Wüste - Manchester

Die Stadt als politischen Ort hatte sich Bryn Jones gewählt, auch wenn seine musikalischen Arbeiten in der Wüste lokalisiert sind. Ohne große Öffentlichkeit - seine CDs erschienen meist in limitierter Kleinauflage von mehreren hundert Exemplaren - hatte Jones sein Projekt Muslim Gauze vorangetrieben. Anfang des Jahres ist Jones in Manchester gestorben.

Seit 1982 versorgte Muslim Gauze mit einem unermüdlichen Output eine kleine Gemeinde mit musikalischen Kommentaren zur Lage der arabischen Welt. Albumtitel wie Hebron Massacre oder United States of Islam weisen auf den politischen Hintergrund der Veröffentlichungen. Durch die Titel oder mit aussagekräftigem Coverdesign - beispielsweise islamische Frauen mit verhüllten Gesichtern bei Schießübungen - stellte Jones politische Implikationen her. Direkte politische Statements wie auf den Toncollagen bei Hebron Massacre finden sich allerdings eher selten. Musikalisch arbeitete Jones zweigleisig: Zeitweise verschmolz er traditionelle Elemente des gesamten indischen und mittelöstlichen Raums mit repetativen und elliptischen Grooves elektronischer Herkunft und kreierte so fast tanzbare Zehnminutensongs. Dieser sanft-kontemplativen Konzeption stehen dann Cut-up-Attacken aus Kurzwellensignalen, Redefragmenten und übersteuerten arabischen Soundschnipseln gegenüber.

Zwar sind bei Staalplaat gerade Neuerscheinungen aus dem Nachlaß von Muslim Gauze erschienen, doch soll an dieser Stelle keine konkrete Kaufempfehlung ausgesprochen werden. Vielmehr sei geraten, sich direkt im Plattenladen den einen oder anderen Liebling selbst herauszuhören.


Marcus Peter

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