Ausgabe 03 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin von unten

Thomas Arslans "Dealer" eröffnet neue Perspektiven auf die Stadt

In der eigenartigsten Szene aus Thomas Arslans "Dealer" steht Can mit seiner kleinen Tochter vor einem riesigen, blau leuchtenden Aquarium und betrachtet schweigend die lautlos darin schwebenden Quallen. In der Mitte des Films plaziert, erzeugt dieses Bild einen unvermittelten Moment der Ruhe, denn es illustriert in seinem Kontrast zu dem zuvor Gezeigten, wie verfahren und hart Cans Leben geworden ist. Can (Tamer Yigit) ist Mitte zwanzig, er ist Türke und verdient sein Geld als Dealer in Kreuzberg. Daß der Film in Berlin spielt, erkennt man jedoch nicht an den schon stereotyp gewordenen Film-in-Berlin-Bildern, die sich mittlerweile in jedem zweiten deutschen Film von "Lola rennt" bis "Liebe deine Nächste" breit machen. Cans Berlin sieht anders aus. Er bewegt sich in Hinterhöfen, an deren Wänden die Farbe abblättert und eine weniger bekannte Wirklichkeit zum Vorschein kommt - ähnlich wie in seinem Gesicht, dessen Ausdruckslosigkeit nur durch kleine Nuancen auf ein bewegtes Innenleben schließen läßt.

Das Kreuzberg der Dealer besteht aus verlassenen Ecken im Park, und den kürzesten Wegen durch die Betonarchitektur rund ums Hallesche Tor, die in Arslans Bildsprache nicht mehr abweisend wirkt, sondern als ein vertraut gewordenes Terrain für Cans tägliche Geschäfte erscheint.

Die Geschichte des Films ist klassisch und weniger spannend als die Art, wie er erzählt wird. Sie handelt von diesem einen Typen aus einer Gang von Kleinkriminellen, der im Grunde zu sensibel ist für seinen schmutzigen Job. Can ist derjenige, der Streß hat mit seiner Freundin, weil sie von ihm verlangt, seine Toughness nicht auf der Straße zu beweisen, sondern im normalen Leben. Er soll aufhören, für die großen Macker die Drogen zu verticken, und die ständige Gefahr, im Knast zu landen, gegen einen Job eintauschen, der seiner Familie Sicherheit gewährt. Insofern ist der Plot aus den "Boyz´n the hood" der Filmwelt hinlänglich bekannt. Doch "Dealer" besticht gerade dadurch, daß er nicht versucht, South Central L.A. nach Kreuzberg zu verpflanzen und Schauspieler wie Orte in Rollen zu zwängen, die ihnen schlicht nicht passen. Tatsächlich tragen die mithin recht steifen Dialoge im Kontrast zu einer umso beredteren Bildsprache zu einem erstaunlichen, tja, Realitätseffekt bei, der durch die unprätentiöse Erzählweise dieser "Leben auf der Straße"-Story nur noch gewinnt.

"Dealer" soll kein Action-Film und auch kein Krimi sein. Indem Arslan auf die Spannungs-Konventionen dieser Genres verzichtet, gelingt ihm eine Charakterstudie der Figur Cans, die ansonsten schnell in Klischees hätte versinken können. So spielt es in dem Film auch keine Rolle, ob der Junkie, mit dem Can schließlich geschnappt wird, ein Spitzel war, oder ob seine Verhaftung spannend verlief oder nicht. Es geht um Can, um das, was er tut, was er nicht tut, was er wahrnimmt und was er verstehen kann. Was er nicht sieht und nicht verstehen kann, bleibt im Dunkeln und interessiert viel weniger als die Entwicklung, die er vollzieht.


Markus Sailer

"Dealer" D1998 Regie: Thomas Arslan, Darsteller: Tamer Yigit, Idil Üner, Birol Ünel u.a.; ab sofort in den Kinos FSK am Oranienplatz und im Xenon.

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  Ausgabe 03 - 1999