Ausgabe 23 - 1998berliner stadtzeitung
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Souverain surfen am Standort Berlin

"die Gestalten" - eine kleine Verlagsgeschichte

Zweifelsfrei wäre es ein interessanter Katalog geworden, hätte das Grafikerkollektiv "die Gestalten" ihrem ersten Impuls nachgegeben. Haben sie aber nicht; nur einen Sammelband der hauseigenen Flyerproduktion herauszubringen, war ihnen zu wenig.

"Vor vier Jahren haben wir uns viel in der Technoszene bewegt", erzählt Andreas Peyerl,"wir wollten ein Buch gestalten nicht über, sondern aus der Szene heraus. Wir haben Kreative angesprochen, die in der Szene aktiv waren, aus den Bereichen Mode, Grafik, Musik, Club-Deko, Fotografie und Video. In einem Buch wollten wir das grafische Erscheinungsbild der Technokultur herausarbeiten, einen geschichtlichen Abriß über jenes Zeitgeschehen liefern, daß uns inspirierte." Es entstand der erste Band der Localizer-Serie, benannt nach einem Gerät zur Standortbestimmung aus der Schiffahrt.

Die Folgepublikationen griffen einzelne Apekte auf, und porträtierten sie detailierter.

Genau wie in der elektronischen Musik entwickelte sich auch die rechnergestützte Bildbearbeitung, die Typographie, die Fotografie zu immer neuen Formensprachen.

Der vierte Band "Icons - Localizer 1.3" führt darüber die inhaltliche Auseinandersetzung. Zu dem Themenkreis Neue Medien, postmoderne Philosophie, Wissenschaft und Gestaltung äußern sich Autoren wie Baudrillard, Virilio, Kittler, Mc Luhan etc. Das Buch präsentiert sich aquablau mit silber 3D- Folie, vierfarbig und grafisch kongenial umgesetzt.

Neben der Localizer-Reihe erschienen Fotobände, ein Flyerbuch aus fremden Händen, Musiktexte, alles Bücher für ein sehr eingeschränktes, junges Zielpublikum, das aber für genau diese Produkte ein starkes Interesse hat und diese auch sucht.

Eine bemerkenswerte Neuerscheinung "Design Agent km7" über und von dem Grafikdesigner Klaus Mai zeigt seine Gestaltungslösungen für Kunden wie Sony, Swatch oder Nike. Klaus Mai wurde unlängst vom Trendmagazin ID zum "top groundbreaking graphic artist of the decade" erklärt. Das Buch selbst erhielt eine Auszeichnung vom Art Directors Club.

Die meisten Titel erscheinen zweisprachig oder in englischer und deutscher Version gleichzeitig. Der stark visuell geprägte Charakter der Publikationen erleichtert ein internationales Operieren. Mit kleinen Einschränkungen: in Asien werden Schamhaare beiderlei Geschlechts vom Zoll rasiert bzw. geschwärzt.

Die innerbetriebliche Struktur ist international und modern im besten Sinn. "Wir haben Leute hier aus Schweden, Schweiz, Ungarn, mit Design-Ausbildung oder ohne. Jeder hat seine eigene Persönlichkeit, alle arbeiten sehr unterschiedlich. Projekte werden basisdemokratisch im Team erarbeitet. Dann überlegen wir, wer kann diese ganz bestimmte Ästhetik am besten abbilden", fomuliert Peyerl mit Nachdruck.

Wie das in realiter funktioniert, erläutert eine Praktikantin: "Die einzelnen Mitarbeiter werden sehr genau ausgesucht. Danach schenkt man ihnen dann das volle Vertrauen. Selbst als Praktikantin bekommst du anspruchsvolle Aufgaben zu lösen. Das motiviert natürlich unheimlich."

Die persönliche Begeisterung merkt man den Produkten an. Die Gestalter begreifen sich als "Spiegel des Zeitgeschehens". Angesichts dieses liberalen Arbeitsklimas traut man ihnen auch langfristig zu, nicht nur mit den Trends zu schwimmen, sondern souverän zu surfen.

Ulli Lust

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 23 - 1998