Ausgabe 22 - 1998berliner stadtzeitung
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"Alkohol und Rauchen tue ick gerne, besonders Goldbrand"

Eine ehemalige Leiterin der Schülerzeitschift "Zeitung aus der Scheune" erzählt

"Eh, eh, eh, Tanja ick hab die geilste Mucke für die Schülerdisco heute abend, Mensch, eh, die werden richtig abgehen." Dabei sah mich Olli mit seinen immer zuckenden Augen an. Diese verstärkten den Enthusiasmus in seinem Gesicht nur noch. Erst als ich danach auf der Toilette saß, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: "Mensch, der hat ja kein bißchen gestottert eben." Olli war einer von den Kids, die ich in meiner Zeit an der "Oberschule im Scheunenviertel" kennenlernte.

Olli war nicht besonders gut in der Schule und sein Elternhaus mehr als desolat. Olli wollte DJ werden. In der Schule leitete er sogar 南e Arbeitsgemeinschaft für junge DJs. Wenn seine Finger über die Platten flatterten, schrie die ganze Aula mit, und dann war Olli der Größte und stotterte auch nicht mehr. Manchmal redete ich ihm in哀 Gewissen, sich bloß ein bißchen mehr Mühe in der Schule zu geben, damit es irgendwann klappt mit seinen Lebens-träumen. Vor kurzem, fast ein Jahr später, traf ich ihn wieder an der Straßenbahnhaltestelle Weinmeisterstraße. Schon bei seinem "Hallo" zog sich mein Herz zusammen, weil er wieder stotterte. Im Gesicht hatte er rote Flecken, und ich fragte ihn: "Mensch Olli, wie geht哀 dir denn so?" und haute ihm dabei auf die Schultern. "Be-beschissen, aber das wird schon wieder." Olli macht jetzt eine Lehre als Maurer und hat eine Zementallergie. Bei seiner Mutter wollte er nicht mehr wohnen, und der Chef läßt sich fies Zeit mit der Lohnzahlerei. In seiner neuen Wohnung sind die Heizung und Wasserleitungen alles andere als funktionstüchtig. Als er sich mal traute, bei der WBM vorstellig zu werden, weil er nicht mal 南e Spüle in der Küche hatte, dauerte es drei Wochen, bis die Klempner ihm eine im Einzelteil-Verschnitt in die Küche legten. "A-aber ick hab ja gottseidank noch 南en Armeeschlafsack, d-dann ist det Nachts nisch so kalt."

Aber an dieser Schule passierten 南e Menge tolle Sachen für die Kinder. Wie ausgewechselt waren sie dann. Einmal kamen ein paar Alba-Basketballspieler an die Schule. Wochen vorher hatten die Jungs auf dem Sportplatz ihr Spiel perfektioniert in ihren Nike-Schuhen. Bei dem Interview mit ihrem Idol Obradovi剃 fragte ich mal kurz dazwischen, ob man als Profispieler auch rauchen darf. "No, no, no" meinte Obradovi剃 kopfschüttelnd, " then you never became a profi-player". Olle Dirk, der kleine Basketball-Schulstar hatte wirklich ganze zwei Tage danach noch keine einzige Kippe geschweige denn einen Joint angerührt. Wie ein kleiner Kugelblitz raste er über den Schulsportplatz.

Die Kids machten für die Zeitung mal eine Umfrage über Drogenkonsum. Mir hat es fast die Schuhe ausgezogen, daß manche Kinder ohne Stulle im Magen und nur mit 南em Joint im Hirn zur Schule wackeln. Ein fünfzehnjähriges Mädchen sagte in einem Interview: "Alkohol und Rauchen tue ick gerne, besonders Goldbrand."

Richtig fair konnten sie sein. Bei der alljährlichen Weihnachtsfeier, traten ein paar Mädels der 9. Klasse mit einer Tanzchoreografie auf. Selbst die Dickste mit ihrem Schweiß auf der Nase wurde von den Jungs ohne hämisches Lachen hochgejubelt.

Die nervöseste Stimmung kam immer im Frühjahr bei den 10. Klassen auf, wenn es um die Lehrstellen ging. "Und, haste schon wat?" war die große Frage. Dennis zum Beispiel, fand Schwule schon immer abartig und war der totale Computerfreak. Sogar zur Bundeswehr wollte er gehen, wenn er da ja nur am Computer rumhacken könnte. Das hatte nicht geklappt. Die Zeit wurde enger und der Vater von Dennis energischer. Vor einer Sitzung für die Schülerzeitung nahm ich ihn mal beiseite und fragte die gleiche blöde Frage: "Und, haste schon wat?" Er druckste herum: "Mmh, ne Friseurlehre mach ick jetz." Dennis der Friseur, der Schwule abartig findet. Es wird viel an dieser Schule getan für die Kinder, für manche ist es sogar das erste Zuhause. Doch kann eine Gesellschaft human sein, wenn Jugendliche Friseur werden müssen, obwohl sie Computer lieben oder Steine übereinandersetzen mit roten Flecken an den Händen, oder sagen müssen: "Ne, ick hab nischt"?

Die süße Heike wollte schon ab der 5. Klasse Pathologin werden. "Mmh, Leichen aufschneiden, das ist doch geil." Ihr geb ich ja bei der Art Berufswunsch noch eine Chance, aber auch nur, wenn sie mit dem Schuleschwänzen aufhört. Ach so, die "Oberschule im Scheunenviertel", wo all die wunderbaren Kinder für`s Leben lernen, ist direkt im "Szene-Gebiet" Hackescher Markt.

Tanja Petrowna N.

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