Ausgabe 22 - 1998berliner stadtzeitung
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Langer Weg zum guten Klima

Werden rechtsextreme Übergriffe verurteilt, ist schon viel erreicht

Ein Gespräch mit der Leiterin der Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA) Berlin, Anetta Kahane. Die RAA Berlin ist Teil eines Netzes solcher Arbeitsstellen, die sich mit den Problemen der Fremdenfeindlichkeit und der Integration von Ausländern in Ostdeutschland beschäftigen.

Was ist der Ansatz ihrer Arbeit?
Wir arbeiten ganz viel in Schulen mit Jugendlichen, versuchen, klimatische Bedingungen so zu verbessern, daß fremdenfeindliche Situationen gar nicht erst entstehen. Wenn sie passiert sind, versuchen wir zu deeskalieren, soweit, daß diskriminierte Leute sich einigermaßen wohlfühlen. Daneben geht es vor allem um den Schutz von potentiellen Opfern: Ausländer und zunehmend auch Jugendliche, die nicht rechts sind, sich dieser Mainstram-Jugendkultur nicht anpassen wollen. Schulen sind günstig, weil sie gute Orte von Nachbarschaft sind, wo nicht nur alle Jugendlichen, sondern im Prinzip auch deren Eltern anwesend sind.

Wie sieht die Arbeit konkret aus?
Wir haben ein Netz von Schulen, mit denen wir seit Jahren zusammenarbeiten und in denen wir Klubs eingerichtet haben - das heißt an der Schnittstelle von Schul- und Freizeitbereich, der gemeinhin ausgespart wird. Das ist eine völlig absurde Trennung, die mit der Geschichte der Sozialpädagogik in der Bundesrepublik zu tun hat. Wir nehmen an, daß Kinder weniger dazu neigen, gewalttättig zu sein und sich an Fremden zu vergreifen, wenn sie sich an den Schulen wohlfühlen, wenn es gute Bindungen gibt. Das ist eine sehr indirekte Form der Gewaltprävention.

Knüpft das an das so oft behauptete Defizit an, wonach ein Teil des ostdeutschen Rechtsextremismus entstand, weil Versorgungseinrichtungen wie Klubs und Horte plötzlich wegfielen und die Kinder von einem Tag auf den anderen quasi allein gelassen wurden?
Ach, Quatsch. Das Defizit liegt ganz woanders. In der DDR galt eine Formel, die in der deutschen Kultur ohnehin sehr stark ausgeprägt ist, nämlich: Gemeinschaft definiert sich über den Ausschluß von Andersartigkeit. Wenn man drin war, war man drin, und wenn man draußen war, dann ging es einem wirklich dreckig. Der Konformitätsdruck war enorm groß. Jetzt zu sagen, die DDR wäre ein Hort der Wärme gewesen, ist ungefähr so, als käme man aus dem Bauch eines Walfisches kommen und sagte, das war aber gemütlich dort. Wenn man so wie ich in der DDR immer schon draußen war, dann gab es weder Gemütlichkeit noch Wärme. Leute, die sich angepaßt hatten, wurden wohl mit einem Zugehörigkeitsgefühl belohnt, aber das Bedrohungsgefühl war gleichzeitig sehr stark. Man wußte, wenn man sich rausbewegt, folgt ganz starke Ausgrenzung. Auch das ganze Thema Rechtsextremismus basiert auf diesem Ausschluß-Muster. Es ist oft unglaublich, wie einer, der in seiner Gemeinde Rechtsextremismus als Problem anspricht, als Nestbeschmutzer beschimpft wird, falls seine Gemeinde anderer Auffassung ist. Das Gefäß des Sich-Kümmerns in seiner ganzen Vielfalt nehmen wir aber auf und lehnen etwa auch ein Lehrer-Beamtentum ab, das mit Unterrichtsschluß seine Aufgabe für beendet erklärt. Die Schule ist für uns ein Ort, der weit mehr als das Lernen beinhalten sollte. Das Rollenverständnis eines Mathematiklehrers war in der DDR sehr viel breiter als heute. Für einen solchen Ansatz sind wir, aber natürlich nicht unter der Prämisse der Kontrolle, der ideologischen Steuerung und der Ausgrenzung, die damals miterfüllt wurden.

Wie viele solcher Klubs gibt es in Berlin?
Es gibt in Berlin an 60 Schulen solche Klubs, davon werden 10 direkt von uns betreut. Weitere Klubs sind in Form von Fortbildungen, Erfahrungsaustausch, Gesprächen in unser Netzwerk einbezogen. Aktionen organisieren wir auch in anderen Klubs, zum Beispiel kürzlich ein Konzert mit polnischen Roma, das dann in mehreren Klubs über die ganze Stadt verteilt stattfand. Und wir arbeiten daran, noch mehr Klubs in unser Netzwerk integrieren.

Welche direkten Einwirkungsmöglichkeiten habt Ihr?
Kriseninterventionen, wenn sich Leute mit einem Problem direkt an uns wenden. Oder Fortbildungsveranstaltungen für Pädagogen und Lehrer, dafür haben wir etliche Spiele entwickelt. Ganz wichtig ist die Schaffung und Durchführung eines ganzen Projektes. Im Mai 1997 haben wir zudem das Zentrum für demokratische Kultur gegründet, das Bulletins herausgibt. Es beschäftigt sich nur mit der Operationalisierung der Frage von Rechtsextremismus und was man tun kann.

Was ist genau Aufgabe des Zentrums?
Erstens eine Aufarbeitung von Informationen und Bereitstellung von Materialien für Betroffene vor Ort, Politik, Verwaltung, Journalisten und andere Interessenten. Das andere ist die konkrete Beratung von kommunalen Einrichtungen in ganz Ostdeutschland, von der Schulklasse bis zum Innenminister, bei Krisensituationen. Es gibt einen unheimliche Reichtum an Praxiserfahrungen, die verarbeitet werden und helfen, wenn ein Schulleiter aus Neuruppin oder Greifswald anruft und sagt: Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Immer wenn ich in der Klasse komme, springen alle auf und rufen Heil Hitler.

Wie kann man mit so einer Situation umgehen?
Das ist ein mehrstufiger Prozeß. Will man das Problem lösen, muß man es zuerst erkennen. Da reicht nicht, daß sich jemand bei uns meldet. Die Leute müssen sich erstmal für die Probleme öffnen, und das ist oft nicht leicht, weil dieses Erkennen des Problems und seines Ausmaßes eine Flut von Entsetzen mit sich bringt. Davor schützen sich die Leute. Anschließend muß man die betreffenden Leute auf denselben Kenntnisstand bringen, die Wahrnehmung klären. Der eine etwa fährt morgens immer mit der Bahn, wenn die Berufsschüler auch fahren, und die sind alle rechts. Da denkt er natürlich, es gibt nur noch Rechte. Ein anderer fährt eine Stunde später und weiß gar nicht, wovon der andere redet. Also eine konkrete Analyse der wirklichen Situation. Wie schlimm ist sie wirklich? Ist man sich über die Existenz des Problems einig, gilt es zu klären, ob die Institution, also die Schule, das Problem allein lösen kann. Meistens geht das nicht, weil das Umfeld so "verschmutzt" ist, daß diese Umwelt vor der Schule nicht Halt machen kann. Dann beginnt alles von vorn, muß man in der Kommune andere Leute an den Tisch holen, das Jugendamt, den Bürgermeister, die IHK, und sich mit ihnen wieder über das Problem und die Kenntnisse verständigen. Das muß sich durch die ganze Kommune durchfressen, und am Ende stehen, wenn es gut läuft, ein paar aktive Bürger, die eindeutig klären, was gut und was schlecht ist. Die dann zum Beispiel die Courage besitzen und sagen, daß nicht das Opfer schuld ist, wenn es angegriffen wird. Entsteht ein Klima, in dem Angriffe eindeutig verurteilt werden, ist schon viel erreicht.

Man kann also dem Lehrer nur helfen, indem man das gesamte Klima verändert?
Wir haben ein Wort erfunden: Wertesicherheit. Das ist das, was man im Osten ganz besonders braucht. Die Leute müssen in ihrem Wertgefühl sicher gemacht werden. Das klingt in einer Gesellschaft, die soviel von Wertepluralismus redet, vielleicht ein bißchen komisch. Aber man kann über Werte nur diskutieren, wenn klar ist, daß alle die Demokratie akzeptieren. Das heißt, daß die unterlegene Minderheit nicht ausgerottet wird. Sonst funktioniert Demokratie nicht. Die Prämisse ist eine absolute Gleichwertigkeit von Leben, es ist absolut elementar, daß man niemanden wegen seiner Hautfarbe, Religion, sexuellen Orientierung usw. angreifen darf und es womöglich noch legitim findet.

Demokratie als Lern- und Erfahrungsprozeß?
Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft ist doch ein Rückzugsgefecht. Angesichts der weltweiten Veränderung, der Migrationsbewegungen, ist der Schlüssel zur Zukunft die offene Zivilgesellschaft, und zwar in einem viel stärkeren Ausmaß als das auch in der BRD jemals üblich war. Die Zivilgesellschaft ist in Deutschland immer ein Schwachpunkt gewesen. Wie wenig regen sich die Bürger in der Öffentlichkeit darüber auf, daß man sich als Schwarzhäutiger in Ostdeutschland nicht frei bewegen kann! Es wird einfach hingenommen. Hier liegt die zivilgesellschaftliche Verantwortung auch im Westen, ein ganz wichtiger Punkt, wo wir sagen: Ihr habt die Verantwortung für die Wiedervereinigung nicht nur im Straßenbau gepachtet, sondern auch hier. Macht nicht die Augen zu! Und wir müssen dafür sorgen, daß die hierin engagierten Leute im Osten von uns mit aller Kraft unterstützt werden. Ich glaube nicht, daß wir diese rechtsextreme Bewegung wirklich eindämmen können. Wir können nur ein Klima schaffen, wo es für die Täter schwerer wird.

Wie schlimm ist es denn Ihrer Ansicht nach tatsächlich?
Ich habe gelernt, daß man keine Zahlen nennen soll. Es gibt wie immer große Unterschiede. Natürlich gibt es Kommunen, wo ein Problembewußtsein vorhanden ist, wo die unterschiedlichen Anschauungen klar hervortreten und man das Problem zumindest eingrenzen kann. Und dann gibt es Orte, da ist die völkische Grundstimmung so verbreitet, daß es nur einzelne Leute gibt, die nicht davon erfaßt sind. Das läßt sich eher literarisch beschreiben als prozentual.

Und wie ist es in Berlin?
Sehr unterschiedlich. Das hängt stark davon ab, ob sich in bestimmten Nachbarschaften schon Leute gefunden haben, die sagen, das geht uns jetzt doch zu weit. Das fängt in einigen Stadtteilen Ostberlins gerade an. Und in anderen Teilen schlafen die Leute weiter, auch wenn da Künstler oder Intellektuelle wohnen.

Das Gespräch führte Stefan Strehler

Das "Zentrum Demokratische Kultur" gibt regelmäßig Bulletins heraus. Die letzte Ausgabe befaßt sich speziell mit der Situation in Berlin. Darin werden das "Café Germania" als rechtsextremer Treffpunkt und Beispiele rechtsextremer Aktivitäten aus Hellersdorf, Treptow, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg beschrieben. Das Bulletin kostet fünf Mark und ist erhältlich in der Schumannstraße 5, 10117 Berlin, fon 282 96 27.

Dort befinden sich auch die RAA Berlin (fon 282 30 79) und die Mediathek der RAA, wo man ausführliche Schrift- und Bildmaterialien einsehen und entleihen kann.
Öffnungszeiten:
Di 11 bis 15 Uhr
Mi 13 bis 16 Uhr
Do 9 bis 13 Uhr
fon 2384302

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