Ausgabe 22 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Bildermüde?
Apokalypse im Kopf?
Ausgeschlafen?

Woche des Hörspiels in der Akademie der Künste

Im großen Saal der Akademie am Hanseatenweg erlischt das Licht. Nur phosphoreszierende Stangen, blauen Flämmchen gleich, erleuchten matt den Raum. Was hier zur Aufführung kommen wird, sind diesmal keine Filme, sondern Klänge, Töne, Geräusche, kurz: Hörbilder. Es läuft die Woche des Hörspiels in Berlin. Keine leichte Kost in diesem Jahr, sondern - laut Programm - akustische Apokalypsen. Arno Schmidts Endzeitvision der fünfziger Jahre, "Schwarze Spiegel" zum Beispiel, oder Andreas Renoldners "Irgendwo", in dem sich ein Paar auf steter Flucht vor der Realität und sich selbst befindet. Selbst die "Drei Schritte zum Himmel" von Dirk Spelsberg entpuppen sich als Weg in eine Katastrophe: "Ob der Himmel die Hölle ist oder die Hölle der Himmel, diese Frage läßt sich, so absurd es klingt, nur mit Ja beantworten."

Bei aller inhaltlichen Beschäftigung mit Niedergang und Katastrophen scheint die Gattung des Hörspiels eine Renaissance in der Öffentlichkeit zu erleben. Abseits der medienüblichen Quotenjagd werden immer noch anspruchsvolle Hörspiele produziert und auch gehört. Sender geben eigene Hörspielprogrammhefte heraus (wie zum Beispiel das vierteljährliche "HörspielFeature" von DeutschlandRadio Berlin/Deutschlandfunk), seit kurzem existiert eine eigene Fachzeitschrift mit dem Namen "Hörwelt", und demnächst wird im Friedrichshain sogar ein eigenes Hörspielcafé akustische Leckerbissen anbieten.

Vielleicht ist solch ein Aufbruch ein Zeichen allgemeiner Bildermüdigkeit? Letztlich läßt das Hörpiel mehr Platz für Phantasie, ermöglicht dem Hörenden, im Kopf eigene Welten zu erschaffen, ohne sich fertige Bilder ins Gehirn brennen zu lassen. Auch der Genuß in Gemeinschaft ist bei einem Medium, das meist allein vor dem Radiogerät rezipiert wird, eine besondere Abwechslung. Die anderen Menschen inmitten der blauen Flämmchen der Akademie wecken auch Neugier auf die vielfältigen Bilder in den anderen Köpfen.

Holger Zimmer

PS.: Bei Redaktionsschluß stand der Gewinner des "Lautsprechers" 1998 noch nicht fest. Mein Favorit ist jedoch Ror Wolfs Collage "Die Durchquerung der Tiefe in dreizehn dunklen Kapiteln", in der ein Mensch durch beckettartige Räume einer Unterwelt wandert, die seinem eigenen Inneren sehr ähnelt.

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 22 - 1998