Ausgabe 21 - 1998berliner stadtzeitung
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Musik für die Massen

Ryoji Ikeda - Time And Space (Staalplaat) - Neue Elektronische Musik hat Hörgewohnheiten verändert, keine Frage. Störgeräusche bei Acts wie Aphex Twin oder - noch extremer - den finnischen Extremtönern Panasonic wurden mit der Zeit zu so etwas wie Popmusik. Popmusik im Sinne einer Klangschulung hin zu Disharmonien und Klangflächen ohne jeglichen Mitsummfaktor.

In Japan besetzt man schon seit längerem ähnliche Experimentier-Felder akkustischer Wahrnehmungserweiterung. Die Elektroterroristische Variante japanischer Totalradikalität kann man Noise, Krach oder Wohlfühlmusik nennen, je nach Schmerzempfinden des Musiksozialisierten. Technikfreaks wie Merzbow oder Aube schalten Maschinen auf Sturm und inszenieren einen Krieg der Klangeneratoren - ohne Rücksicht auf Verluste.

Nimmt man nun die Schnittmenge dieser beiden Paralleluniversen, die teilweise eh schon fließende Übergänge ineinander aufweisen, kommt eine destruktiv geordnete Noise-Elektronik wie die Ryoji Ikedas dabei heraus. Schon seit drei Platten lotet Ikeda das Feld des Möglichen von total reduzierter Minimalelektronik mit Nervfaktor 10 aus und hat dabei eine artifizielle Körpermusik geschaffen, die Räumlichkeiten herstellt, um sie gleich wieder zu verwerfen, sich zurückzieht, Fragezeichen hinterläßt, Millenniumsängste heraufbeschwört und gelegentlich wie der Puls eines Großrechners klingt - moderne Popmusik halt.

Time And Space von Ryoji Ikeda ist eine Doppel-Mini-CD, bei der die Time-CD mit der Space-CD zeitanalog gehört werden kann, nicht muß, um so Time And Space zu relativieren. Time besteht aus Störgeräuschen, Space kommt zu sich selbst: zu Space, zu Cyber-Klangmaterie.

Ikedas Musik wird trotz aller Ausgeklügeltkeit niemals akademisch, sondern geriert einen Groove, dessen Herkunft ein Rätsel ist. Warum diese Geräuschmusik funky ist, bleibt Geheimnis und hat wohl etwas mit irgendwelchen Zauberchips in Ikedas Festplatte zu tun. Wenn es also wirklich Zukunfstmusik geben sollte, kann man sie bei Ikeda finden.

Übrigens: Am 28. Und 29. November wird ein Abend der berühmt-berüchtigten Berlin-Label-Connection Kitty Yo und City Slang mit Überraschungen ohne Ende über die Volksbühne gehen. Ikeda wird dabei die Rolle des großen Unbekannten spielen dürfen - und offene Münder zurücklassen.

Andreas Hartmann

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 21 - 1998