Ausgabe 10 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

21. Mai bis 3. Juni

Eine in der Schönhauser Straße wohnende Dame pflegt seit geraumer Zeit ausrangierte Glühlichtbirnen als Zimmerschmuck zu verwenden, indem sie dieselben mit einem seidenen Netz umspinnt, so dass sie wie Ballons aussehen, an denen kleine mit Moos oder Blumen gefüllte Gondeln baumeln. Einen solchen Ballon will sie auch am 21. Mai basteln und nimmt eine Glühlichtbirne zur Hand, um sie vom Staub zu reinigen. Plötzlich gibt es einen lauten Knall, und alle Personen im Zimmer werden mit Glassplittern übersät. Die Birne ist explodiert. Man nimmt an, dass in die luftleer gemachte und mit Gips verschlossene Birne doch etwas Luft eingedrungen war, die sich durch die Wärme der Hand ausdehnte und so das Glas zersprengte. Da es gerade Mode ist, Birnen in der geschilderten Weise als Zimmerschmuck zu verwenden, sei hier zur Vorsicht geraten.

Eine Spielhölle hat die Witwe Anna Hörschlein in der Hirtenstraße monatelang betrieben und steht deshalb am selben Tag vor der Strafkammer des Landgerichts I. Sie steht unter Anklage des Duldens von Glücksspielen. Neben dem Schankzimmer befand sich ein Zimmer mit einem Billard. Das diente aber nicht diesem Zweck sondern wurde mit einer großen Holzplatte bedeckt. In diesem Raum wurde täglich "Meine Tante, deine Tante" gespielt.

Die Spieler standen dicht ums Billard herum, nur der Bankhalter thronte auf einem Stuhl am Ende des Billards. An der Tür stand ein Mann Schmiere. Die Bankhalter sollen einen durchschnittlichen Gewinn von 120 Mark täglich gemacht haben. Meist begannen die Einsätze mit kleineren Beträgen, erhöhten sich aber auf bis zu 30 Mark. Ein junger Schlächtermeister hat innerhalb von sechs Wopchen sein ganzes Vermögen von fast 5000 Mark verloren und muss nun als Arbeiter sein Brot verdienen. Seine Ehefrau war es auch, die die Polizei von der Spielhölle unterrichtete.

Am 19. Oktober 1897 überrumpelten Beamte und Führung des Polizeilieutenants Schmidt II die Spielergesellschaft. Einige entkamen durch die Hoftür, andere rafften das auf dem Billard liegende Geld zusammen und warfen die Karten unter den Tisch. Fast 40 Personen wurden zur Wache gebracht. Frau Hörschlein wird zu 100 Mark Geldstrafe, der Bankhalter Krell, der sich zum achten Mal wegen gewerbsmäßigem Glücksspiel zu verantworten hat, zu sechs Monaten Gefängniss und einem Jahr Ehrverlust verurteilt.

Für eine Übernahme der Elektrizitätswerke in städtische Verwaltung im Jahr 1900 spricht sich der Hausbesitzerverein "Süden" einstimmig aus. Es sei dringend geboten, dass die Stadt Berlin sich diese wichtige Einnahmequelle sichere. Die Stadt, die doch schon die Gaswerke, die Kanalisation und die Wasserwerke selbst verwaltet, müsse ihre Bedenken überwinden.

Der Abriss ist das unvermeidbare Vorstadium für die meisten Neubaue. Und an den hübschen Fernsichten, die sich dabei mitunter eröffnen, erkennt man so recht, dass auch Abbrüche ihr Gutes haben können. Nachdem am Kupfergraben die alte, hässliche Kaserne gefallen ist, zeigt die Gegend einen herrlichen architektonischen Hintergrund. Frei kann der Blick über die Stadtbahn zur Nationalgalerie schweifen, zum Neuen und zum Alten Museum, zum Königlichen Schloss und zu den Türmen des Rathauses und der Marienkirche.

Das Abbruchgelände selbst dagegen bietet keinen so schönen Anblick. Ein Trümmerfeld aus Stein- und Ziegelhaufen, auf dem nur einige alte Bäume erhalten sind. Doch erhebt sich auf dem Gelände schon die Aufschüttung der neuen Straße, die eine gerade Verbindung zwischen der Artilleriestraße und der Universitätsstraße herstellen wird.

Von seiner afrikanischen Reise, die sehr erfolgreich verlief, ist der Geheime Medizinalrat Prof. Dr. Robert Koch nach Berlin zurückgekehrt. Abends am 25. Mai wird ihm von seinen Mitarbeitern im Central-Hotel ein festlicher Empfang bereitet.

Die Einziehung der Telephongebühren für den Fernverkehr soll verändert werden. Bisher gingen den Fernsprechteilnehmern über die nach außerhalb geführten Gespräche nach Ende des Monats eine Rechnung der Telephon-Verwaltung zu. Darin waren die einzelnen Gespräche sowie die Gebühren dafür kurz eingetragen. Zur Vermeidung von Irrtümern führt man jetzt die Ferngespräche nur noch nach Anmeldeblättern aus. Diese Blätter werden den Teilnehmern im Original ausgehändigt, so dass sie sich genauer orientieren können.

Der "Jules Verne der Volkswirtschaft", der amerikanische Schriftsteller Edward Bellamy ist am 28. Mai gestorben, meldet die Berliner Presse. Sein bekanntestes Werk ist der Roman "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000". In kaum eine Zivilisationssprache ist dieses Buch nicht übersetzt, das im Original "Looking backward" hieß. Die erste deutsche Übersetzung führt merkwürdigerweise den Titel "Alles verstaatlicht". Ein Julian West schläft darin infolge einer hohen Morphiumdose ein, außerdem gerät noch sein Haus in Brand und er wird verschüttet. Merkwürdigerweise überlebt er und wird bei Erdarbeiten in Philadelphia im Jahr 2000 in einem Gewölbe wohlerhalten wieder aufgefunden, erwachte zum Leben und wird durch einen Arzt und dessen Tochter in eine ihm völlig fremde Welt eingeführt. Man mag über den Sozialismus Bellamys und seine Weltbeglückungs-ideen denken wie man will, als ein Schriftsteller von seltener Eigenart, imponierender Phantasie und gewaltiger Darstellungskraft wird er in den Augen der Nachwelt aller Zeiten gelten.

Falko Hennig

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 10 - 1998