Ausgabe 10 - 1998berliner stadtzeitung
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Die Prachttoilette

Bei den Marquards in der Kulturbrauerei

Sicher, es gibt schönere Arbeitsplätze, aber die Marquards haben sich ihren so schön wie möglich eingerichtet. Der Besucher und die Besucherin werden von behaglicher Wohnzimmer-Atmosphäre empfangen: Ein paar Stühle, ein Bücherschrank, ein Kübel mit Plastikblumen. Mittendrin sitzt Herr Marquard mit seiner Frau und sagt sein Sprüchlein auf: "Guten Abend, Damen bitte schön links ... rechts die Männers."

An die 500 Mal an einem Abend begrüßt er so seine Kunden. Vorausgesetzt die Veranstaltung läuft gut, und das heißt für die Marquards, das Programm wirkt sich belebend auf Verdauungstrakt und Blase der Besucher aus. Seit fünf Jahren verbringt das Ehepaar fast jeden Abend auf ihrer Pracht-Toilette in der Kulturbrauerei. Eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn schließen sie auf, legen Toilettenpapier nach und warten auf die ersten Kunden.

Er sitzt auf der Frauen-, sie auf der Männerseite. Die Platzverteilung ist kein Zufall, sondern folgt einer ausgeklügelten Geschäftsstrategie. "Das ist Psychologie", erklärt Matthias Marquard, "weil der Mann besser mit den Frauen zurecht kommt und die Frau besser mit den Männern". Denn "vor´s Pullern sollte es ja auch einen kleinen Obolus geben.".

"50 Pfennig tun nicht weh, für ein sauberes WC", prangt als Motto über dem Eingang gegenüber in Sichthöhe. Auf dem Tisch darunter haben die Marquards ihr Warensortiment ausgebreitet: Vom Kondom über Zahnbürste bis zum Schoko-Riegel ist hier alles zu haben, wonach es Nachtschwärmer gelüsten könnte. Für alle Fälle hält Jolanta Marquard Pflaster, Tampons und Kopfschmerztabletten bereit.

Die freundliche Begrüßung, das reichhaltige Angebot, die wohnliche Atmosphäre lassen sich nur mit einem Satz zusammenfassen: Hier ist der Mensch mit all seinen Bedürfnissen willkommen.

Aber auch die Klo-Idylle der Marquards ist nicht ungetrübt: Langes Zigarettenpapier fehlt im Angebot. Herr Marquard senkt bedeutungsvoll die Stimme: "Das sind die Papers für die ... na, Sie wissen schon." Nein, für die Freunde eines gepflegten Joints hat er nichts übrig. Drogen sind Drogen, basta. Und mit Dealern, die sich mit ihren Kunden auf der Klokabine einschließen, haben die Marquards schlechte Erfahrungen gemacht. Aber darüber reden sie nicht gern.

Bereut haben sie ihre Berufswahl bisher nicht. Selbst Jolanta Marquard, gebürtig aus Polen und gelernte Kindergärtnerin, hat ihren anfänglichen Ekel überwunden. Jetzt möchte sie ihren Arbeitsplatz nicht mehr missen. Früher habe sie sich nie getraut, Deutsch in der Öffentlichkeit zu sprechen. Seit sie Nacht ein, Nacht aus vor ihren Toiletten sitzt, hat sie ihre Scheu verloren. "Hier kommen Menschen nur zum Guten Tag sagen", erzählt sie. Silvester zum Beispiel: "Da waren Leute da, die wollten überhaupt nicht pullern, überhaupt nichts kaufen, nur zum Wünschen sind die gekommen. Das macht Arbeit leichter und macht viel Glück." Stolz zeigt Jolanta Marquard ihr Autogrammbuch. Ein fast lückenloses Verzeichnis aller Musiker, Kleinkunst-Stars oder Politiker, die in den letzten Jahren in der Kulturbrauerei aufgetreten sind: Von den Zöllnern bis Hiltrud Schröder. Irgendwann mußten sie alle mal bei den Marquards einkehren. "Leben ist schöner als nicht leben", dichtete Georgette Dee romantisch, gewohnt pragmatisch lautet hingegen Sozialministerin Regine Hildebrands Widmung: "Gutes Geschäft."

Am einträglichsten sind die Abende, an denen die Toilette pauschal vom Veranstalter angemietet wird. Reichtümer bringt die Pachttoilette nicht ein. Vom wechselnden geschäftlichen Erfolg künden die Poster, die jedes freie Stück Wand bedecken. Matthias Marquard erinnert sich an jedes Konzert, jede Lesung, jede Party: "Als die Musikgruppe hier aufgetreten ist, das weiß ich noch genau". Er zeigt auf ein Plakat, "da war in drei Stunden ein Mensch hier." In bester Erinnerung hat er die Premiere des Werner-Films. Da floß das Freibier in Strömen und dementsprechend war der Andrang auf die Pachttoilette.

An diesem Abend läßt der Blasendruck der Discobesucher im Kesselhaus nebenan, wohl aufgrund des fehlenden Freibiers, zu wünschen übrig. Gegen drei Uhr nachts betritt kaum mehr jemand die Toiletten Erlebnis-Welt der Marquards. Bis der letzte Gast verabschiedet ist und die Marquards die Klos geputzt haben, dauert es noch ein paar Stunden. Zeit zum Pläne schmieden. Jolanta Marquard träumt von einer Woche Urlaub an der Ostsee. Gibt es sonst noch einen Wunschtraum? Die beiden müssen nicht lange überlegen: Eine richtige Toilettenanlage, das wäre etwas: Mit Kacheln und fließend Heißwasser.

Gerd Brendel?

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