Ausgabe 10 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Soziale Magneten

mental maps von Uwe Rada

Es war wie bei der Vorbereitung eines Staatsaktes. Völlig generalstabsmäßig ging meine Nachbarin vor. Sie organisierte einen Grillmeister, fragte bei den Bewohnern des Nachbarhauses, ob deren Hof zur Verfügung stünde, legte einen Termin fest und begann mit den Einladungen - mündlich diesmal, weil für Kärtchen das Geld fehlte. Mich traf die Einladung mit voller Wucht. Schließlich habe auch ich bald wieder Geburtstag. Aber Grillmeister? Nachbarn? Fete? Nee, dann lieber abhauen, Wein trinken oder die Decke übern Kopf ziehen.

Mir fiel diese Vergesellschaftungs- oder besser Verindividualisierungsdebatte der Geburtstagsfrage wieder ein, als ich zur Vorbereitung dieser Kolumne in einem Stadtsoziologiebuch las. Über soziale Netzwerke und mentale Stadtpläne. Aber dort wurde nur zwischen Makro und Mikro und der Streuweite sozialer Beziehungen unterschieden, nicht aber zwischen Männern und Frauen. Dabei liegt der Unterschied doch auf der Hand. Ich bin ein Mann. Und meine Nachbarin ist eine Frau. Ich kann keine Geburtstage feiern. Meine Nachbarin kann es. M. auch. Bei M.´s Vierzigstem habe ich die erste wirkliche Geburtstagsfeier erlebt. Dutzende von Menschen waren gekommen, und alle wegen M. Aus Hohenschönhausen, Kasachstan, die Rübergemachten aus Hamburg und die Hängengebliebenen aus dem Prenzlauer Berg. Damals dachte ich, das wäre wegen Osten und so. Weil im Osten der Mensch im Mittelpunkt steht und im Westen das, wofür er steht.

Heute weiß ich, es war auch wegen M. Als Frau. In all den zwanzig Jahren, in der M. in ihrer Wohnung lebt, war ihre Küche der Mittelpunkt eines gesellschaftlichen Mikrokosmos, ein privater Salon inmitten der realsozialistischen Öffentlichkeit. Sind Frauen wie M. oder meine Nachbarin also soziale Magnete und Männer wie ich nur Salongäste, Eisenteilchen, die um diese Magnete kreisen?

Am vergangenen Mittwoch fuhr ich zum ersten Mal nach Buch. Krankenbesuch. Ich war schon oft in Buch, aber nur als Durchreisender nach Danewitz oder zum Gorinsee. Diesmal kam ich als Ankommender. Oder als Eisenteilchen. Der kranke Magnet, oder soll man sagen, die Magnetin? saß im Gasthof Buch unter Kastanien. Als ich die Magnetin begrüßte, verabschiedeten sich zwei andere Eisenteilchen, eins davon weiblich, also zu Zeiten selbst Magnet. Warum ist das so? fragte ich die Magnetin? Sie erzählte vom Alltag im Krankenhaus, ihren Spaziergängen nach den Untersuchungen und ihren Autofahrten über die Dörfer. Plötzlich war es mir bewußt. Sie selbst war überhaupt keine Magnetin. Sonst hätte sie nicht über die Dörfer fahren können, sondern warten müssen. Auf die Eisenteilchen. Das hatte sie gar nicht nötig. Die Eisenteilchen kamen trotzdem. Ich war verwirrt. Zu Hause zurück, half mir auch mein Soziologiebuch nicht weiter. Im Zweifel ziehen sich Soziologen eben doch nur auf das Beschreiben zurück und überlassen die Erklärungen den Philo- und den Psychologen. Am Abend beim Griechen fragte ich meine Nachbarin, warum sie ständig im Mittelpunkt stehe, immerzu Besuch habe und Geburtstag feiere. Meine Nachbarin zuckte mit den Schultern. Dafür wußte der griechische Kellner eine Antwort. Sie steht gar nicht nur im Mittelpunkt, sagte er, sondern gibt auch denen, die bei ihr sind, das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen. Man könnte das nun magnetische Influenz nennen, sagte der Grieche, oder einfach auch nur, andere ernst zu nehmen.

Ich fühlte mich ertappt. Wenn ich, selten genug, einmal Besuch hatte, hoffte ich insgeheim, daß er bald wieder ginge. Ich nahm den Besuch nicht ernst, er störte mich.

Ob es eine solche Influenz gibt, fuhr der Kellner fort, hängt vom, wenn man so will, magnetischen Kern des Gastgebers ab. Je mehr dieser in sich selbst ruht, desto größer ist nicht nur seine Autonomie, sondern auch seine Anziehungskraft. Siehste, bemerkte meine Nachbarin und räkelte sich genüßlich auf der Holzbank. Ich stand auf und bezahlte. Kommst du zu meinem Geburtstag, rief mir meine Nachbarin hinterher? Hast Du doch gar nicht nötig, rief ich im Gehen.

Oben griff ich nicht ins Soziologie-, nicht ins Psychologie- und auch nicht ins Philosophieregal, sondern zum Stadtplan. Ich suchte nach dem Bermudadreieck. Auch das Bermudadreieck war ein Mittelpunkt. Der Mittelpunkt für Ulrike. Oder besser: von Ulrike. Fast ausschließlich bewegte sie sich zwischen ihrer Wohnung in der Torstraße, dem Village am Koppenplatz und der Scheinschlagredaktion in der Ackerstraße. Ich schreibe: bewegte, weil aus dem Bermudadreieck nun ein Bermudalineal geworden ist. Ulrike hat den Scheinschlag verlassen. Weil der Scheinschlag Ulrike verlassen hat. So einfach ist das, fast wie in Liebesbeziehungen. Aber eigentlich brauche ich mir um Ulrike keine Sorgen zu machen. Auch ein Bermudalineal kann ein Mittelpunkt sein. Ich weiß, wovon ich rede, schließlich ertappe ich mich selbst immer wieder dabei, an meinen freien Tagen ins Village zu schlendern. Und wenn Ulrike nicht da ist, schaue ich eben durch die Village-Scheiben die Ackerstraße hoch. Den Blick die Ackerstraße hoch habe ich von Ulrike. Wenn Ulrike nicht da ist, ist sie trotzdem da. So ist das bei Magneten mit Influenz. Sorgen muß ich mir eher um den Scheinschlag machen. Warum? Ganz einfach: Wer wird die nächste Geburtstagsfeier organisieren? Vor allem aber: wer wird kommen?

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  Ausgabe 10 - 1998