Ausgabe 10 - 1998berliner stadtzeitung
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Macht Wahn Sinn

Eine Nachbetrachtung zum Foucault Tribunal

Folgt man der Logik des psychiatrischen Systems, ist derjenige psychisch krank, in dessen Akte entsprechendes vermerkt ist. Seelisches Leiden wird zur Verwaltungsfrage, hast du einen Eintrag, bist du ein Fall für uns und verlierst deinen Anspruch auf grundlegende Freiheitsrechte. Sinn - in diesem Fall bürokratisch erzeugt - macht Wahn.

Macht Wahn Sinn. Unter diesem Titel und zwischen diesen drei Polen bewegten sich die Vorträge und Streitgespräche des Foucault Tribunals zur Lage der Psychiatrie am ersten Maiwochenende in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Eine inszenierte Gerichtsverhandlung mit verteilten Rollen als einzig mögliche Form, der Schwere des Falles gerecht zu werden. Eine trockene Abfolge von theoretischen Vorträgen und Podiumsdiskussionen, das war in den lebhaften Debatten zwischen Publikum und Jury, Anklage und Verteidigung zu spüren, hätte geradezu zynisch gewirkt.

Wahn macht Sinn - in zweifacher Hinsicht. Aus der medizinischen Unterscheidung zwischen "verrückt" und "vernünftig" entstehen zwei Klassen, die in direktem Zusammenhang mit der Zielrichtung politischer Macht stehen: Auf der einen Seite die, die politisch-gesetzlich kontrollierbar sind, weil sie sich an die Regeln der Normalität halten. Auf der anderen Seite all jene, die durch dieses Raster fallen. Sie halten sich nicht an die aus der "Vernunft" entsprungene Ordnung, sind folglich nicht beherrschbar und gefährden die Stabilität dieser Ordnung.

Nicht nur als Etikett für die Anderen macht Wahn Sinn. Jeder Wahnsinn hat Methode, sei er staatlich organisiert - wie der Einsatz einer militarisierten Polizeimaschine gegen friedliche Demonstranten am 1. Mai - oder so ganz und gar auf eine Person beschränkt wie die "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" eines Daniel Paul Schreber. Dessen Aufzeichnungen sind das Protokoll des in sich vollkommen stimmigen Glaubens, Gott habe ihn auserwählt, um ihn in eine Frau zu verwandeln und mit ihm ein neues Menschengeschlecht zu schaffen.

Schrebers Wahn macht Sinn nur für einen einzelnen. Die polizeiliche Provokation von Gegengewalt dagegen dient dazu, einer konservativen Vorstellung von sozialer Ordnung, inklusive der Unterordnung individueller Freiheitsrechte unter das staatliche Gewaltmonopol, Sinn zu verleihen.

Beim Foucault Tribunal standen sich in den Rollen von Jury und Verteidigung Psychiatrieerfahrene und Vertreter der Sozialpsychiatrie gegenüber. Opfer des Zwangs zum allgemeingültigen Sinn die einen, Hüter der staatlich verlangten Ordnung die anderen? So einfach lagen die Fronten nicht, zumal die Verteidiger nicht zu den Hardcore-Zwangsbehandlern zählten, sondern ein Bewußtsein für die, tja, schizophrene Lage der Psychiatrie signalisierten, einerseits helfen zu wollen, andererseits Zwangsmaßnahmen als letzes Mittel einzusetzen. Dennoch fiel das Urteil der Jury am Ende des Tribunals hart aus: "Wir stellen fest, daß die Psychiatrie, die nicht bereit ist, Zwang und Gewalt aufzugeben, sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat: der vorsätzlichen Zerstörung von Würde, Freiheit und Leben. Vor allem durch die Kategorisierung von Menschen als geistig Kranke wurde der totale Entzug von Menschen- und zivilen Rechten sowie des Naturrechts zugelassen", heißt es da.

Markus Sailer

"Freiheit kann in gewisser Weise ihren Preis haben"

René Talbot, Mitglied der Irrenoffensive, saß beim Foucault Tribunal in der Jury. Ein Gespräch über Wahnsinn in der Gesellschaft:

Während des Foucault Tribunals versuchte die Verteidigung die "sanfte" Sozialpsychiatrie zu verteidigen und die zwangausübende, "schlechte" Psychiatrie dagegenzusetzen.

Nein, sie hat "zwangausübend" eindeutig nicht mit "schlecht" gleichgesetzt. Aber letztlich gibt es keinen Unterschied. Die Sozialpsychiater sind nur lieber und sagen, es ist nicht biologisch. Doch sie haben noch weniger Theorie als die Biologisten. Die wollen nur christliche Nächstenliebe üben, das ist alles. Mehr ist nicht rausgekommen.

Und das ist Ihnen nicht genug?

Der Punkt ist: Entweder ist es Zwang und Menschenrechtsverletzung und schafft Untermenschen, Menschen die ihrer Rechte beraubt werden können, oder nicht. Wenn die Psychiatrie an der tatsächlichen Ausübung des Zwangs festhält, kann sie zehnmal erkären, daß sie weniger Zwang ausüben will. Aber sie bekennt sich ja dazu, daß es Menschen geben muß, die man, ohne daß sie kriminell sind, einsperren und zwangsbehandeln muß. In diesem Punkt war keine Distanzierung zu erkennen.

Letzlich hätte Ellis Huber (Präsident der Ärztekammer Berlin) nur gegen die Psychiatrie argumentieren können, wenn er gesagt hätte, seelische Erkrankungen sollen nicht mehr von Psychiatern behandelt werden.

Nein, es geht immer nur um den Zwang. Die Chance der Verteidigung wäre gewesen, zu sagen, wir wollen den Zwang ernsthaft abschaffen. Das haben sie nicht gemacht. Damit haben sie bestätigt, daß der wesentliche, inhärente und unleugbare Teil der Psychiatrie Zwangspsychiatrie ist. Deshalb kann sich auch Sozialpsychiatrie nicht davon trennen. Zwang ist ihr inhärent, und damit ist sie menschenfeindlich, egal, wieviel "sozial" sie dranklatschen will.

Die Verteidigung hat ja damit argumentiert, daß es Situationen gibt, in denen es nicht ohne Zwang geht.

Das einzige Argument, mit dem die Anklage in die Bredouille gekommen wäre, wäre ein Zeuge gewesen, der einen Selbstmordversuch hinter sich hat und gesagt hätte, zum Glück bin ich gerettet und festgehalten worden, weil ich es sonst sofort noch einmal versucht hätte.

Solche Fälle gibt es ja...

Das ist trotzdem kein hinreichendes Argument, denn dann müßte man z.B. auch den Autoverkehr verbieten. Es gibt immer Todesfälle, wenn in der Gesellschaft Risiken eingegangen werden. Der wichtigere Punkt ist jedoch der totalitäre Charakter der Psychiatrie. Niemand will das DDR-System zurück, nur weil die Kriminalitätsrate in der DDR niedriger war, als sie heute ist. Freiheit kann in gewisser Weise ihren Preis haben.

Wie stehen Sie prinzipiell zu einer Vorstellung von psychischer Krankheit?

Ich halte das für völligen Quatsch, weil das Subjekt nicht hinterfragbar ist. Ob ich blau so wahrnehme, wie Sie blau sehen, kann man nicht überprüfen. Wenn man es versuchen wollte, sozusagen diese Maschine auf den Kopf setzen und sagen könnte, du siehst jetzt blau wie ich, dann hätten wir die Freiheit endgültig preisgegeben. Denn wenn man nicht mehr lügen kann, gibt es auch keine Freiheit mehr zur Wahrheit. Dann ist der Mensch definiert, und das ist die grausamste Diktatur überhaupt.

Wenn es aber darum geht, daß ein Mensch ohne Hilfe nicht mehr klarkommt...

Das ist aber ein Problem der Einsamkeit, dem helfe ich nicht dadurch ab, daß ich einen einsamen Menschen krank nenne. Wenn jemand einsam ist, muß man sehen, wie die Gesellschaft wieder kontaktfähig wird. Der Umstand, daß man nicht leistungsfähig ist, wird nur entschuldigt, wenn man eine Krankheit definiert. Das ist eine Ausgrenzungsmaschine, die den einzigen Zweck hat, die Zahl der nicht Ausgegrenzten zu erhöhen. Es gibt sicherlich Unterschiede in der Wahrnehmung, etwa was als Halluzination bezeichnet wird, aber das wurde früher auch anders gesehen. Jehanne d'Arc war zum Beispiel eine Heilige. Die Theologie hat sich an die Psychiatrie verabschiedet. Die Psychiatrie hat die Herrschaft übernommen, indem sie definieren und ihre Definitionsmacht zwangsweise durchsetzen kann.

Arbeitet die Irrenoffensive in erster Linie gegen die Psychiatrie oder setzt sie sich auch für andere Hilfskonzepte ein?

Erstmal besteht das Hilfskonzept darin, daß wir uns untereinander einiges mehr an Wahnsinn zugestehen. Dadurch entstehen für Außenstehende vielleicht viele etwas merkwürdige Situationen, in denen sehr kräftig rumgeschrien wird. Und ich denke auch, daß oft Verletzungen, die man erfahren hat, noch einmal untereinander reproduziert und ausgetragen werden. Das kann sehr schwer sein, weil die Entwürdigung und die Erfahrung der Ohnmacht dazu führen, daß ein kleiner Machtzuwachs untereinander zu neuen Unterdrückungsverhältnissen genutzt wird. Aber andererseits ist allein die Existenz der Irrenoffensive über achtzehn Jahre hinweg das Manifest gegen psychiatrische Systeme. Weil es hier ohne irgendwelche professionelle Hilfe und Zwang geht.

Ein anderes Problem ist die Schwierigkeit, in anderen Begrifflichkeiten zu denken, da Begriffe wie "neurotisch" oder "depressiv" so tief in die Alltagssprache eingedrungen sind.

Am schlimmsten ist, daß das, was die Nazis getan haben, als Wahnsinn interpretiert wird, und damit völlig verdreht wird, daß die Wahnsinnigen die ersten waren, die vernichtet wurden. Das zeigt, daß der Begriff des Wahnsinns völlig aus den Fugen geraten ist und in keiner Weise noch irgendwas bezeichnet, sondern nur noch zur Stigmatisierung verwendet wird.

Letztlich bleibt es wohl eine Utopie, den Wahnsinn positiv ausleben zu können, nicht ständig mit den gesellschaftlichen Verhältnisse zu kollidieren.

Ich glaube, die Utopie ist viel näher, als wir denken. Ich würde sagen, daß wir in einer ähnlichen Zeit leben wie zur Befreiung der Homosexuellen um 1960. Zehn, fünfzehn Jahre danach waren die Gesetze gefallen. Ich denke, das Foucault Tribunal gab da nochmal einen wichtigen Anstoß.

Das Gespräch führte Markus Sailer

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