Ausgabe 08 - 1998 | berliner stadtzeitung scheinschlag |
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Berlin 189823.April bis 6. MaiDer Schlesische Bahnhof scheint in der Sonne zu glänzen, die Sonne, Erhard Weber kneift die Augen zu, die Sonne, die ihm viel heller scheint als im letzten Jahr. Gegenüber dem Droschkenstand steht er und beobachtet die Angereisten, die mit Koffern oder leichtem Handgepäck, mit Omnibus, Droschke oder zu Fuß ausschwärmen in die große Stadt. Sicher sind auch Künstler dabei, junge Künstler, die ankommen voller Hoffnungen und Illusionen, nicht anders als er selber vor einem Jahr. Steht da: Tausende oder zehntausende müssen es wohl jedes Jahr sein, junge hoffnungsvolle Menschen, die ein, zwei Jahre später erhängt in ihren möblierten Zimmern gefunden werden oder gebrochen zurückkehren in ihre kleinen Heimatstädte. Eine Brise weht eine halbe Zeitungsseite über den Bürgersteig. Weber hebt sie auf, wirft einen Blick darauf: Morgenlied eines Straßenbahn-Reisenden. Morgens zwischen sechs und sieben, Weber faltet den Zeitungsschnipsel zusammen, steckt ihn ein ohne nachzudenken. Er geht los, ohne Ziel, einfach so. Das Zischen der Dampfloks wird leiser, Erhard Weber ist in eine stille Gasse geraten, dickbusige ältere Frauen schauen auf Kissen gelehnt aus den Fenstern. Weber nimmt den Zeitungsschnipsel wieder heraus, liest: Tausende von Dienstbefliss´nen Einen Augenblick will Weber den Artikel wegwerfen, überlegt es sich anders und steckt ihn erneut in seine Jackentasche. Wie sicher etliche der heute Eingetroffenen, ob jetzt auf dem Schlesischen, dem Stettiner, dem Hamburger oder dem Anhalter Bahnhof, war er vor über einem Jahr hier angekommen. Ihm war es damals nicht klar gewesen, aber seine Hoffnung war vielfach größer gewesen als sein zeichnerisches Talent. Sein naiver Landlehrer hatte gemeint, es könnte ja nicht schiefgehen. Wusste er doch so wenig von dem städtischen Leben, in dem der einzelne im Millionengetriebe unbarmherzig zermahlen wird, wie jetzt sein Schüler. Den Erfahrenen schützt ein Geflecht aus Bekanntschaften, Empfehlungen und Beziehungen. Der Wirbelsturm der Großstadt ist unbarmherzig, er reißt mit sich fort, was er erfassen kann, zerrt es in schwarze Tiefen, in abgrundtiefe Löcher. Weber wird schwindelig, wieder dieser Zeitungsausschnitt: Achtet nicht der stummen Bitten, Weber geht kopfschüttelnd weiter, nur wenigen Glücklichen ist es beschieden, von demselben Strudel, der ihn zu zermalmen drohte, emporgehoben zu werden, zu freudigem glanzvollem Dasein. So lange sie noch gereicht hatten, die wenigen Sparpfennige, hatte er nicht aufgegeben, bald da, bald dort sich vorgestellt und Proben seiner Kunst vorgelegt. Überall Anerkennung und Lob, nur keine offene Stelle. Alles sei schon besetzt, hieß es, vielleicht später. Seine Lage war immer trostloser geworden, der Kampf um die Existenz immer aussichtsloser. Und jetzt nur noch eine Mark in der Tasche, Weber lehnt sich über das Geländer und schaut in das trübe fließende Wasser, dann wieder in das Zeitungsgedicht: Seine Augen künden Strenge, Weber wirft den Schnipsel angewidert in den Fluss, eine Böe erfasst ihn, kann ihn aber nicht mehr emporwirbeln. Weber sieht das zerrissene Blatt unter die Brücke treiben und geht weiter, irrt in den Straßen Berlins umher, seine Hoffnungen sind zerbrochen. Nichts mehr, an das er sich klammern kann, keine Aussicht auf Hilfe. Sein planloses Wandern bringt ihn Unter die Linden. Einen Kaffee, dafür reicht es noch. Weber tritt in ein Café und bestellt. Mit dieser einen Tasse muss er den ganzen Tag auskommen. Erhard Weber sitzt an dem Marmortisch und beginnt, halb unbewusst, auf der Fläche des Marmortisches zu zeichnen: Bismarcks Kopf. Nach einer guten halben Stunde, als er endlich mit der Zeichnung fertig ist und sich umblickt, steht vor ihm ein hagerer, dunkel gekleideter Herr. Der Teufel, denkt Weber. Der Mann fragt ihn, ob er ihm diese Zeichnung für 500 Mark verkaufen wollte. Erhard Weber wird schwindelig, ein Dämon, der sein böses Spiel mit ihm treibt. Aber der Herr meint es ganz ernst damit, den Tisch mit Bismarcks Kopf zu erwerben. Der Cafetier wird gerufen. Der Herr, ein Engländer, wie sich herausstellt, bezahlt den Tisch und Erhard Weber erhält 500 Mark in bar. Falko Hennig
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